Ziviler Ungehorsam – oder Aufbruch nach Eden
Die Geschichte des Menschen wird oft als leidvolle Entwicklung empfunden. Der folgende Artikel ist der Versuch eines gedanklichen Zirkelschlags: durch die Geschichte zur Gegenwart aus christlich- abendländischer Sicht im Spiegel der menschlichen Psyche zur Entstehung von Wirklichkeit. Und: was können wir daraus lernen? Braucht es den Eingriff Gottes, um die Welt zu ändern? Und was kann der einzelne Mensch tatsächlich tun?
Es ist eine uns sehr vertraute Geschichte: Adam und Eva im Paradies leben in Harmonie, im Frieden mit der Tier- und Pflanzenwelt. Allerdings hat die Idylle einen hohen Preis: sie sind unbewusst und deshalb unfrei. Sie können nicht “Gut und Böse erkennen”, ihnen fehlt die Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung. Sie formen noch nicht die Welt und unterscheiden sich daher kaum von anderen Paradiesbewohnern. Die eigentliche Geschichte der Menschheit beginnt mit dem “Sündenfall”: der Anfang der Menschheit wird im Bibelbuch Genesis als Akt des Frei-Werdens beschrieben (die später negativ konnotiert wurde); eine Auflehnung, eine “Sünde” gegen die umfassende Unfreiheit. Der Mensch musste allerdings auf seine Unfreiheit hingewiesen werden: Luzifer, der „Lichtbringer” (zumindest wird im jüdisch- christlichen Verständnis dieser mit der Schlange identifiziert; dabei handelt es sicher aber nur um eine Interpretation), setzte sich für die “Erleuchtung” des Menschen ein, die bereits potentiell durch Gott selbst angelegt war: der „Baum der Erkenntnis“ mit seiner „begehrenswerten Frucht“ war ja verlockend sowohl im Aussehen als auch seinem Standort sehr attraktiv vom Schöpfer installiert worden, wie wir im Bibelbuch Genesis lesen.
Der Mensch musste sich von einer Illusion befreien – dem „Paradies“- und erkennen, dass er nun erkennend war. Er erkannte „Gut und Böse“, deutbar als die Dualität, die notwendige Grundlage eines verantwortungsvollen, selbstbestimmten Lebens. Der Mensch entwuchs symbolisch dem kindlichen Bewusstsein einer immer heilen Welt und dem Eins-sein mit der Welt. Er konnte von nun an selbst Ursache werden: „sein wie Gott“, wie die Bibel es sagt, nämlich schöpferisch. Umgekehrt formuliert könnte man sagen, der schöpferische Geist, also Gott, wurde seines Schöpferseins gewahr. Der “Ausgang aus der gottverschuldeten Unmündigkeit” (in Abwandlung des Kant- Ausspruchs) kostete allerdings einen gefühlt hohen Preis: die Geburt des Egos und damit die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit und in dessen Folge all den desaströsen Bemühungen des Egos zur Erlangung der ultimativen Kontrolle über die Welt, bzw. der bekannten Interpretation des Auftrags, sich „die Erde untertan zu machen“. Kontrolle ist das Mittel dieses abgespaltenen Egos, der Angst Herr zu werden.
Seither wünscht er sich die “Erlösung”: zurück in den Zustand leidfreier, kindlicher Unschuld. Seither bemüht sich der Mensch, seine kleinen Paradiese zu erschaffen, sei es im Mikrokosmos des heimischen Gartens oder in politischer Utopie.
Spiele, Sünde und erwachsen werden
Auf der anderen Seite wird er sich gewahr, dass nicht nur Gutes den Geist antreibt. Die Dualität, verstanden und gelebt als Spektrum der Handlungsmöglichkeiten, ermöglicht eben nicht nur grenzenlose Liebe, Hingabe oder Barmherzigkeit, sondern auch deren Gegenteil: noch immer scheinen Erfahrungen der Grausamkeit, extremer Macht und Kontrolle und eine Abwendung vom Lebens-fördernden im Allgemeinen erfahrungs- notwendig zu sein. Die Möglichkeit, sich gegen das Leben zu wenden, zum Destruktiven war geschaffen: die Sünde. Schauen wir uns das genau an. Der Handelnde war nicht mehr der mit allem verbundene, ich-freie Geist, sondern dessen Abspaltung. Es war das auf sich selbst bezogene Bewusstsein, welches sich nun für vergänglich hielt und damit nicht mehr im Vertrauen, sondern in der Angst lebte. Dieser Bruch ermöglicht zwar größtmögliche Reflexivität, aber er muss diese Isolation auch spürbar gemacht haben. Das Ego- Ich kämpft seither dagegen mit dem Versuch, Kontrolle über alles zu bekommen an, ohne zu bemerken, dass seine Trennung nur eine Täuschung ist. Kontrolle ist der Modus, mit dem die Angst arbeitet. Und deshalb täuscht das Ego- Ich: es spielt Spiele, es ist nicht aufrichtig sich selbst und anderen gegenüber, es verwechselt schließlich seine Rollen mit sich selbst. Es hat seine wirkliche Natur vergessen. Seither ist es im Kampf gegen den Rest der Welt, die es als Böse bezeichnet. Die Sünde ist das Ego- Ich, welches in Folge seiner Unwissenheit (bzw. Unbewusstheit) und Unaufrichtigkeit eine Welt voller Angst erzeugt.
Alles immer schlimmer?
Gerne wird exemplarisch auf besonders grausame Epochen der Geschichte verwiesen, um Inhumanität in Extremform als Erscheinungen der Vergangenheit hinzustellen. Heute sind wir auf dem Weg in eine bessere Zukunft, so das kollektive Hoffen.
Bei genauem Hinsehen unterscheidet sich die gegenwärtige Realität von totalitären Epochen der Vergangenheit nicht grundlegend. Sind die großen Verbrechen an der Menschlichkeit überwunden? Sind wir auf dem Weg aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ in eine heilere Welt?
Massentierhaltung mit unvorstellbarer Grausamkeit am Geschöpf, ein Geldsystem, welches die Ausbeutung des Planeten und seiner Bewohner zur Bedingung hat, die direkte und indirekte Förderung von Krieg statt dessen Boykott, die Vergiftung des Wassers, der Böden und der Luft durch einen industriellen Golem, der Technik nicht mehr als Möglichkeit, sondern als Verpflichtung sieht, Geo- Engineering, ein Mobilitätswahn, der den Einzelnen nicht mehr zur Ruhe kommen lässt – die Aufzählung könnte lange fortgesetzt werden.
Man könnte fragen: wodurch unterscheiden sich diese Praktiken, nur weil sie zur Normalität erhoben worden sind, von den Perversionen eines dritten Reichs, einer Inquisition oder anderen Verbrechen an der Menschlichkeit? Sie gehen sogar darüber hinaus, weil sie 1. globale Auswirkungen haben und 2. auch unsere Nachkommen direkt betreffen und mit einer nicht abzusehenden Hypothek belasten.
Eine böse Welt da draußen?
Gewohnheiten erzeugen Blindheit, die den Wahnsinn unsichtbar werden lässt. Die Analogie in der Genesis zeigt eine Wahrheit: Leid beginnt mit der Trennung. Wenn der Mensch nicht anerkennt, dass er ein Teil (genauer: Sinnesorgan oder Ausdruck) des Großen und Ganzen ist, erzeugt er Leid. Es gibt nicht „den Mensch und die Natur“. Diese Trennung existiert nur, wenn der Mensch sie erzeugt, indem er sich als Ganzes über die restliche Schöpfung erhebt. Was ist denn die „Natur“? Hat sie eine eigenständige Existenz, von welcher der Mensch unabhängig existiert? Ja und Nein. Das Problem liegt darin, dass der Mensch den kalten, analytischen Geist über die Natur/Welt stellt; er glaubt, mit diesem Messinstrument die Natur „zerlegen“ zu können, womit er sie seiner Seele und Lebendigkeit beraubt. Nun kann sie nicht mehr das sein, was nur intuitiv und quasi in integrativer Erfahrung wahrgenommen werden kann.
Der Mensch hat die Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung und lässt sich doch von einer kleinen Elite in immer neue und größere Gefängnisse stecken, die als „alternativlos“ gelten. Die Schraube der Zumutbarkeit wird unmerklich weiter gedreht. Dabei werden die in den Medien präsentierten Probleme außerhalb der gefühlten Reichweite des Individuums platziert. Wir fühlen uns – aus psychologischer Sicht – bei übermächtigen Schwierigkeiten überfordert. Der Mensch kann mit Problemen umgehen, die seinen unmittelbaren Einfluss unterstehen, vor Herausforderungen größerer oder gar auf globaler Ebene muss er die Augen verschließen. Unsere gefühlte Hilflosigkeit resultiert oft einfach aus der Identifikation mit Problemen, die nicht „unsere“ sind. Es gibt noch keine vereinte Menschheit, deren lokale Herausforderungen, Konflikte, Engpässe und Schwierigkeiten von allen gelöst werden könnten. Damit sei nicht zur Ignoranz, wohl aber zur Rückbesinnung aufgefordert. Lösungskompetenz muss im „eigenen Haus“ erworben werden um dann erst einmal „vor der eigenen Türe“ erprobt werden zu können.
Auf der Suche nach der Schuld
Die Welt ist zu einem Dorf geworden, aber sie ist nicht zusammengewachsen. Es ist uns Menschen bisher nicht gelungen, die Trennung zu überwinden und uns als Familie zu sehen, die einen wunderbaren Planeten gemeinsam bewohnt (oder gar Teil eines größeren „Organismus“ ist, den der Planet darstellt) , obwohl gerade das die offensichtlichste Erkenntnis zu sein scheint, die wir als Lehre der Vergangenheit ziehen können. Grundlage des derzeitigen Globalisierungs- empfindens ist einzig das durch die Medien geprägte und von der Wirtschaft bestimmte Weltbild.
Aber: was erzeugt den Zeitgeist? Was ist die formende Kraft hinter den Gesellschaften? Was ist also die Ursache der globalen Probleme? Ich glaube, es ist das kollektive Bewusstsein im Sinne einer tief sitzenden Ausrichtung des Geistes bzw. bestimmter Qualitäten desselben. Überzeugungen, Glaubenssätze, Bekenntnisse, Einstellungen usw. sind dem Bewusstsein nachgeordnet, weil sie dieser inneren Triebkraft folgen, die wie ein Magnetfeld die Richtung des Energieflusses bestimmt. Sie haben kein eigenes Leben, keine ontologische Existenz. Jeder Glaube lebt, weil er von seinen Anhängern geglaubt wird, geglaubt werden möchte.
Immer wieder Bewusstsein
Ich verstehe Bewusstsein in diesem Zusammenhang als „Schnittstelle“ der Dualität, die Wahrnehmung und eine Position dazu erst ermöglicht. Es existiert eine scharfe Trennung an dieser Schnittstelle: man stelle sich ein schwarzes und ein weißes Feld auf einem Papier vor. Obwohl sie an einer bestimmten Linie aufeinander treffen, gibt es doch niemals einen Raum, in dem sie sich mischen. Entweder befindet sich ein Ort oder Punkt im schwarzen oder im weißen Feld. Selbst wenn man eine 1000-fache Vergrößerung vornehmen würde, befände sich der Blick entweder hier oder dort. Dennoch ist es gerade die Trennung, die zur Definition eines wahrnehmbaren Unterschiedes führt. Ebenso verhält es sich mit der Zeit. Wir nehmen gerade jetzt, in diesem Moment die „Gegenwart“ wahr – aber auch die existiert nicht, denn entweder befindet sich etwas in der Zukunft oder in der Vergangenheit, egal wie kurz der Moment auch sein mag. Auch hier entsteht die Wahrnehmbarkeit durch den Fluss, der die Polaritäten miteinander verbindet. Dort findet das Leben statt. Tatsächlich ist das Fließen ein Merkmal des Lebendigen. „Pantha rei“- alles fließt, nur eben in unterschiedlichem Tempo. Die ständige Veränderung, nicht die Fixierung zeichnet das Lebendige aus. Statische Zustände gibt es nicht. Wir leben zurzeit in einer Welt, in der die Angst die treibende Kraft und damit bewusstseinsbestimmend ist. Und Angst zementiert, sie steht dem Zulassen und der Veränderung, also dem Fließen im Wege.
Übertragen auf das menschliche Bewusstsein würde das bedeuten, dass wir lernen sollten, die Dinge fließen zu lassen. Die Dinge geschehen zu lassen. Dabei ist Vertrauen der gesunde Pol, Angst der krankhafte. Ausdruck von Angst ist der Wunsch nach Kontrolle, da das Vertrauen in das “Fließen lassen” fehlt. Ich kann also an dem, was geschieht, ablesen, wer wir als Menschen sind. Der Mensch befindet sich in einem irrsinnigen Kontrollwahn: Wetter, Nahrungserzeugung, Staaten, der Bürger, Natur- alles muss kontrolliert werden. Die Probleme der Gegenwart sind ebenso eine Illusion wie der Gedanke einer Gegenwart überhaupt. Sie sind (zementierte) Glaubenssätze, die unsere Wahrnehmung organisieren, genauso wie das subjektive „Jetzt“- Erleben, welches Zukunft in Vergangenheit umwandelt. Probleme setzten sich mit unseren Überzeugungen fort und gewinnen so Substanz (siehe auch bitte den Artikel “das Problem”).
Bewusstsein: der Autopilot
Die Dominanz bestimmter Bewusstseinsinhalte und Qualitäten (welche zu Glaubenssätzen gerinnen) bestimmen und erzeugen die Realität. Wenn wir fest daran glauben, dass eine gewisse Partei um einen bestimmten Führer uns von unseren Problemen befreit, dann sind deren Bedingungen Programm. Oder dass dort ein tödliches Virus in der Luft ist. Und kaum einer merkt, welcher Wahnsinn da wächst. Quod erat demonstrandum. Gerne verschieben wir dann die Ursachen auf „draußen“: wenige Weltenlenker, bestimmte politische Situationen, höhere Gewalt oder gar ein Wesen, das wir als „Teufel“ bezeichnen. Unsere Realität ist allerdings lediglich das Ergebnis (und damit der Spiegel) unseres kollektiven Bewusstseins, nicht seine Ursache. Wir alle tragen die Verantwortung dafür. Die Welt wird sich ändern, wenn wir als Einzelne gewisse Bewusstseinsqualitäten aufgeben und durch Neue ersetzen. Die beobachtbare „Wirklichkeit“ bzw. unsere Deutung derselben ist meist Projektion reinsten Wassers. Die Ausrichtung des Bewusstseins folgt beim „unmündigen“ Menschen der Manipulation, also der als normal propagierten „Realität“ und reproduziert sie dadurch. Ein wechselseitiger Mechanismus, der sich selbst erhält.
Das verantwortungsvolle, mündige Individuum allerdings glaubt nur an seine eigene Wirklichkeit. Der mündige Mensch ist ein „Aussteiger“- nicht ostentativ äußerlich, sondern tief in seinem inneren Erleben und Fühlen. Er weiß, dass nur seine Reaktion auf die Außenwelt seine innere Wirklichkeit bestimmt und er frei ist. Er entscheidet damit über sein Geschick und insbesondere über sein Glück. Er wählt immer wieder neu. Dadurch wirkt er auf die Welt. Er unterstützt kaum die dysfunktionalen Systeme des Systems, konsumiert verantwortungsvoll und selbstbestimmt, er wählt und formt den eigenen Weg. Er hält an nichts fest, weil er weiß, dass er nichts besitzen kann. Alles war schon vor ihm da und wird ihn überdauern. Deshalb strebt er nicht nach Status und Besitz, er dominiert andere nicht, weil er frei ist und daher andere nicht zur Profilierung oder Aufwertung seiner selbst braucht. Er anerkennt seine Abhängigkeiten in dieser Welt und versucht nicht mit Gewalt, mehr aus sich zu machen als er ist: nicht physisch, nicht geistig und nicht spirituell. Er weiß, was für ihn wesentlich ist und leitet daraus keine Allgemeingültigkeit ab. Er dogmatisiert nicht.
Er weiß, dass das Urhebergefühl in ihm, das ihn zum Handelnden macht, eine Verantwortung nach sich zieht, in dieser Welt zum Wohle des Ganzen zu wirken. Letztlich aber ist auch dieses Urhebergefühl eine Illusion.
Das erwachsene Bewusstsein
Ein solches Leben macht jeden Kampf überflüssig. In einem Kampf gibt es immer einen Verlierer, auch wenn er nominell dem Frieden oder einem sonst vermeintlich hohen Ziel dient. Ein Leben in einem verantwortungsvollen Bewusstsein ist eine Form zivilen Ungehorsams, die zu wirklich nachhaltigen Änderungen führen kann. Dieser Prozess kann aber nur individuell vonstattengehen, er kann nicht übertragen oder für andere übernommen werden. Jeder muss von der „Frucht der Erkenntnis“ selbst nehmen, auch wenn uns der Baum von „höherer Stelle“ gezeigt wird und Verbote ausgesprochen werden.
Die Illusion der Unveränderbarkeit der Welt oder der Alternativlosigkeit ist die größte Bremse für ihre Entwicklung.
Und von Illusionen wollten sich Adam und Eva schon befreien, auch wenn es schmerzlich war: das Paradies muss jeder für sich selbst erschaffen. Dann entsteht es im Großen von selbst. Wir sind „geworden wie Gott, erkennend Gut und Böse“: wir sind moralisch erkennende Wesen geworden, die die volle Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen müssen. Auch wenn der Wunsch nach einem Übervater (in unterschiedlichster Form gedacht), der alles richtet, noch so stark ist. Jetzt sollten wir erwachsen werden und selbst Verantwortung übernehmen können. Das erwartet auch ein gesunder menschlicher Vater irgendwann von seinen Kindern. Deshalb baute er (oder sie/es) diese Möglichkeit in die Kinderstube, symbolisiert durch den Garten Eden, ein. Den Zeitpunkt der Befreiung und des Beginns des Lernprozesses überlässt er natürlich uns.