Ein neuer Anfang
Eine dystopische Kurzgeschichte mit Happy- End
Mein Name ist Lotta. Es ist Anfang April 2045, ich bin gerade 30 Jahre alt geworden.
Diese Geschichte begann, als ich fünf Jahre alt war; ich erinnere mich genau. Damals geschah unglaubliches: alle mussten Masken im Gesicht tragen. Medizinische Masken, um ein Virus einzudämmen. Man desinfizierte sich überall die Hände und die Leute hielten Abstand voneinander. Man wurde immer ängstlicher und misstrauischer.
Die Welt unterwarf sich einem System, das sie selbst geschaffen hatte. Freiwillig, aus Angst.
Nichts war schlimmer, als ein Aussenseiter zu sein, der nicht genug Angst hatte.
Trotzdem gab es die: es gab viele, die bezweifelten, dass dieses Virus das tatsächliche Problem war. Die bezweifelten, dass das alles gesund war, was man da zu befolgen hatte, und dass es den Menschen diente. Das war eine Minderheit, und sie hatten es nicht leicht.
Im Laufe der Zeit wurden immer mehr „Maßnahmen“ nötig, um die Krankheit und ihre Abkömmlinge in den Griff zu bekommen. Wer diese Maßnahmen nicht unterstützte, hatte es schwer, nicht nur, weil man ein Aussenseiter war sondern praktisch: man konnte nur noch einkaufen, wenn man einen digitalen Ausweis vorweisen konnte, der regelmäßige Impfungen bestätigte. Überhaupt konnte man nur so am öffentlichen Leben teilhaben.
Davon gab es übrigens immer weniger. Es fanden keine großen Feste mehr statt, selbst private Treffen mussten angemeldet werden. Überhaupt musste man bei allem, was man tat, Angaben machen: über eine App auf dem Handy, welches man überall dabeihaben musste, wurde genau festgehalten, wo man sich aufhielt. Dazu mussten die Leute kaum gezwungen werden, weil ihre Handys schon längst Teil von ihnen geworden waren. Das Handy war zu einem Kontakt-Organ geworden, ohne das man nicht mehr „funktionierte“.
Das Misstrauen der Menschen untereinander führte zu gemeinen Hetzen gegen die, die damit nicht einverstanden waren: Denunziationen waren keine Seltenheit. Der Staat verhängte Strafen für Verstöße und erlaubte beispielsweise keine Versicherungen oder Sozialleistungen für Kritiker.
Es entstand nach und nach ein Hygienekult, den die Menschen durch „Opfer“ bedienten und „Buße“ tun konnten- so zumindest könnte man die religiöse Lage beschreiben. Das Bekenntnis war diese Maske- ohne die Maske war man verdächtig. Der herkömmliche Glaube war natürlich mit der alten Generation abgeschafft worden, die Jüngere dagegen „glaubte“ an die Wissenschaft. Die konnte nämlich alles erklären. Wie die Religion früher eben.
Das führte dazu, dass sich kleine Kommunen von „Aussenseitern“ bildeten, die zwar geduldet waren, aber kaum Zugang zum Rest der Welt hatten. Sie mussten sich fast völlig selbst versorgen.
In einer solchen Kommune lebe ich bis heute- aber inzwischen nicht mehr isoliert. Denn vor Kurzem ist etwas unfassbares geschehen. Aber zuerst die Geschichte, wie es dazu kam.
Denn nachdem die Wissenschaft die Viren scheinbar in den Griff bekommen hatte, galt der Mensch selbst als verbesserungswürdig. „Human Enhencement“ nannte sich der Trend, bei dem der biologische Mensch optimiert wurde. Bald brauchte er kein Smartphone mehr, sondern war selbst über ein Interface mit der digitalen Welt verbunden. Eine implantierte „Karte“ übermittelte alle Zugangsdaten. Visuelle Implantate ermöglichten es etwas später, alle Kommunikation, News oder auch Anweisungen direkt zu empfangen.
Das bedeutete, dass ein Mensch nicht nur ständig informiert wurde, was er zu tun oder zu lassen hatte, was gefährlich oder unerwünscht war und wie er sich vergnügen konnte- das bedeutete auch, dass er seinen körperlichen Vorgängen nicht mehr hilflos ausgesetzt war. Meldete sich eine Krankheit oder Störung, verband sich sein Interface automatisch mit einem medizinischen Wartungsprogramm und er erhielt Anweisungen, wie er sich zu verhalten hatte sowie medikamentöse Versorgung. War sein Zustand für andere gefährlich, weil seine Erkrankung als ansteckend galt, wurde er automatisch in Quarantäne geschickt. Seine Wohnung war entsprechend ausgestattet: die Türen verriegelten sich und Zugang hatte nur medizinisches Personal. Wo er sich aufhielt, war sowieso immer bekannt.
Lebensmittel durfte man sich selbst nicht mehr anbauen- das galt als ungesund und gefährlich.
Schlechte Stimmung musste man auch nicht aushalten, da entsprechende Programme bei den ersten Anzeichen dafür in den Stoffwechsel eingriffen und sie regulierten.
Diese Neuerungen führten zu einem drastischen Rückgang der Kriminalität. Die Interfaces konnten nämlich erkennen, ob jemand Gier, Neid oder Zorn verspürte und reagierten sofort. In diesen Fällen wurde der Betreffende auch durchgängig observiert. Außerdem musste er sich einem Programm unterziehen, das in bestimmten Camps stattfand. Plante er eine kriminelle Tat oder wenn es zumindest so schien, dass er eine solche planen würde, wurde seine Karte in bestimmten Funktionen gesperrt. War er wiederholt auffällig, wurde die Person interniert- wo wusste niemand.
In krassen Fällen wurde auch eliminiert. Das geschah mittels eines Kommandos „Polizisten“ die unvermittelt auftauchten und den den Betreffenden mittels Elektroschock oder Injektion ruhigstellten und mitnahmen. Eine offizielle Beisetzung gab es nicht. Die Angehörigen wurden informiert und über ihre Implantate „versorgt“, so dass ihre Trauer nicht allzu stark war und sie schnell vergessen konnten.
Große Empörung gab es nicht mehr, auch keine Demos oder Kundgebungen. Eine Technologie, die seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts verwendet wird, hat dabei geholfen: mittels starker Frequenzen im Langwellen- Bereich, werden Menschen effektiv davon abgehalten. Solche Frequenzen erzeugen nämlich Müdigkeit, Schwindel und Übelkeit und sind als starke Waffe gegen große Menschenmengen schon in den 20er Jahren eingesetzt worden.
Die große KI, das zentrale Nervennetz, bei dem alle Daten verwertet wurden, arbeitet lückenlos. Kein Vorgang war getrennt, es gab keine Stabsstellen. Die KI entschied sofort nach Auswertung aller Daten. Und diese Daten lieferten die Menschen unablässig über ihre Bewegungsmuster und natürlich über ihre Kommunikation- Privat gab es eigentlich nicht mehr. Freiheit war an die Konformität gebunden. Aber das fiel längst keinem mehr auf. Die KI wusste und entschied alles, denn sie allein legte den Maßstab fest, was richtig und falsch war, was gesund und was gesellschaftlich erlaubt war.
Das führte im Laufe der Zeit nahezu unbemerkt zu einer neuen Ethik. Der einzelne Mensch wurde zunehmend unbedeutend. Was zählte, war das Wohl des Kollektivs. Menschliches Verhalten ist eben keine Freiheit oder Besitz des Einzelnen mehr, sondern es ist Teil der Gesellschaft und damit ihrer Verwaltung, das war der neue Wert. Selbstbestimmtheit galt immer mehr als Egoismus.
Die KI ist unbestechlich, so wurde es gesagt. Sie ist neutral und kann Aufgrund ihrer Schnelligkeit und der Unmenge an Daten, die ihr zur Verfügung stehen, die besten Entscheidungen für die Mehrheit fällen. Was die KI entschied, galt als „richtig“. Der Mensch wurde zum Gegenstand, zum Datensatz, der verwaltet werden musste. Und er akzeptierte das, denn immerhin war es in der Geschichte deutlich geworden: Freiheit und Individualität können gefährlich werden. Spontanität ist nicht kalkulierbar und liegt deshalb außerhalb möglicher Kontrolle – so zumindest sehe ich das heute.
Man fühlte sich aber sicher. Freiheiten waren auch politisch doch immer gefährlich gewesen: wenn man nur an die Atommächte denkt…das Militär ist natürlich auch Teil der KI. Soldaten gibt es natürlich nicht, es gibt auch keine politisch unabhängigen Länder mehr. Klar war: der digital kontrollierte Militärapparat existiert nur für den Fall, dass die Bevölkerung selbst zum „Problem“ würde…
Dabei gab es nur noch wenige Probleme mit der Bevölkerung: als ich geboren wurde, lebten knapp acht Milliarden Menschen auf der Erde. Jetzt sind es weniger als zwei Milliarden. Wettermanipulationen (oder der Klimawandel- je nach Wunsch) verursachten in den 20er Jahren viele Katastrophen, und der darauf folgende Hunger und die Seuchen rafften besonders in den ärmeren Ländern Millionen Menschen dahin, viele starben auf der Flucht. In den Industrieländern war es angeblich eine gefährliche Virusmutante, die zu einer gewaltigen Sterbewelle führte.
Die Geburtenraten waren über lange Zeit fast bei Null; und seit 15 Jahren braucht man eine Erlaubnis, wenn man ein Kind möchte. Überbevölkerung ist also überwunden. Es gibt auch keine Arbeitslosigkeit und keine Armut. Auch keinen übermäßigen Ressourcenverbrauch.
Wünsche werden heutzutage digital erstellt und passend zum Charakter erfüllt. Partnerschaften werden auf die gleiche Weise arrangiert, etwas, was inzwischen als Selbstverständlichkeit nicht mehr wegzudenken ist.
Die Welt außerhalb unserer Kommune ist scheinbar eine sichere Welt. Aber sie ist kein Paradies. Die KI ist effektiv. In ihrer Effizienz ist der Mensch nur ein untergeordneter Faktor. Er ist im Grunde genommen ihr Betreiber, ihr Wirt. Bis heute hat die KI das selbst nicht verstanden. Ihre Algorithmen, die uns anfangs das Leben so erleichtert hatten, begannen ihre eigene Entwicklung voranzutreiben, in der der Mensch nur ein Versorgungs- und Verwaltungsfaktor ist.
Der Anfang von allem war ein Programm auf einem Mega-Rechner im Silicon Valley, der als zentrales „Individuum“ die Koordination des weltweiten Datennetzwerks bündeln sollte. Sein Erfinder, ein Fan von Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ gab ihm scherzhaft den Namen „Deep Thought“, denn so hieß der Mega Rechner im Roman, der den Sinn des Lebens ausrechnen sollte. Jahre später konnte niemand erahnen, dass eine Familie aus Kalifornien– ebenfalls Adams- Fans- ihren Sohn ebenso nannte.
Der Kleine entwickelte auch erst spät auffällige, rebellische Tendenzen. Allerdings waren diese Tendenzen so drastisch, dass die KI entschied, Deep Thought zu eliminieren. Das war vor einigen Wochen. Und das Unfassbare geschah.
Ein in San Francisco befindliches Raketenabwehrsystem wurde aktiviert und wenige Sekunden nach der Entscheidung traf eine Serie von mehreren Granaten das Rechenzentrum im Silicon Valley.
Deep Thought war eliminiert. Zeit für einen ganz neuen Anfang des Menschen.