Die weiteren Aussichten
Das Neue, die Veränderung kann nur auf dem Humus dessen gedeihen, was gerade vergeht. Die Erkenntnis der Notwendigkeit eines radikalen Wandels alleine kann nicht genügen, wenn wir die „Gifte“ im „Boden“ nicht kennen und neutralisieren.
Wie kann es sein, dass immer noch Krieg geschieht? Dass Wirtschaftswachstum und „Produktivität“ angesichts der Offensichtlichkeit ihrer zerstörerischen Auswirkungen und Leerheit ihrer Versprechen immer noch die treibenden Werte auf der Welt sind? Dieser Artikel soll ein Licht auf die Dynamik werfen, die den Menschen immer wieder Scheitern lässt, warum das nicht weiter schlimm ist und wie es vielleicht auch einfacher gehen könnte.
Man gewöhnt sich an vieles, was man für unmöglich gehalten hätte, doch ziemlich schnell. Es scheint, als wären der Verlust von Freiheit, Selbstbestimmung, Meinungsvielfalt oder Toleranz normale Erscheinungen der Logik der Gegenwart. Was gesund, richtig und notwendig ist, ist keine Definition in Folge eines pluralistischen Erfahrungs- und Entscheidungsprozesses mehr, sondern folgt den Regeln legitimierter Gewalt, eingesetzt und verwirklicht durch eine kleine Machtelite aus der unheiligen Allianz zwischen Kapital und Politik. Das ist nichts Neues, nur kommt heute noch erschwerend hinzu, dass sich daraus ein Meinungsabsolutismus entwickelt hat, in dem der Einzelne bereits Stellung bezogen hat, die nur schwer reversibel ist. Ein Beispiel: Mit der Impfung gegen die Pandemie- verursachende vermeintlich tödliche Krankheit hat der Behandelte seinen persönlichen Glauben vereidigt. Dieses „Bekenntnis“ erneut infrage zu stellen, ist für die eigene Integrität gefährlich.
In der Psychologie bezeichnet der Begriff der „Reaktanz“ die Neigung des Menschen, einmal getroffene Entscheidungen im Nachgang gegen Zweifel abzusichern und zu verteidigen. Er bleibt dabei, nicht weil er wirklich tief überzeugt ist, sondern weil er fürchtet, sich möglicherweise falsch entschieden zu haben. Jeder von uns möchte eben auf der „richtigen“ Seite sein.
Und so läuft die Mehrheit der Bevölkerung den Kurs weiter mit, der gerade als angezeigt proklamiert wird, und die Minderheiten kämpfen für ihre jeweiligen Überzeugungen.
Im Besitz der Wahrheit
Als ich noch in der Sekte aktiv war, in der ich aufgewachsen bin – ich erinnere mich genau an das Gefühl – ging es in den Dialogen mit Außenstehenden niemals um Verständnis, sondern um Meinungsaustausch: die Meinung meines Gegenübers sollte gegen meine „Wahrheit“ ausgetauscht werden. Wer die Wahrheit zu besitzen glaubt, sieht keinen Grund, seine Perspektive Infrage zu stellen oder zu wechseln.
Oft höre ich die Meinung, solche Sekten manipulieren bewusst und sie würden in aller Absicht die Menschen täuschen. Doch das ist erstaunlicherweise nicht der Fall. Tatsächlich glaubt auch die Führung das, was sie als Wahrheit proklamiert. Sie sind überzeugt von dem, was von außen und bei genauerem Hinsehen offensichtlich widersprüchlich ist.
Das lässt interessante Schlüsse zu. Legt man diese Dynamik zugrunde, besteht eine Sekte nicht, weil einige machthungrige Führer sie zum Zwecke der Verwirklichung ihrer Ziele installiert haben, sondern sie ist vielmehr ein Symptom der Gesellschaft selbst. Sie ist eine Manifestation eines bestimmten Mangels oder einer unerfüllten Sehnsucht unterhalb der bewussten Oberfläche, denn in der Sekte findet der Suchende die scheinbare Lösung seines Mangels. Dort wartet das Heilsversprechen und das Ende seiner Probleme.
Die Sekte ist allerdings nur eine extreme Ausprägung sozialpsychologischer Realität. Betrachten wir Wirtschaft und Politik nicht als Ursache, sondern als Symptome einer kollektiven Bewusstseinsverfassung, bekommen wir ein völlig neues Bild von der Welt.
Auch in der Sekte glaubt der Einzelne, sich den „richtigen“ Entscheidungen der Führung unterwerfen zu müssen, die ja unzweifelhaft seinem Wohlergehen dienen. Einmal getroffen, verstärkt sich seine Überzeugung, selbst auf der „richtigen Seite“ zu sein und potenziert sich bei jedem weiteren „Bekenntnis“.
Verfolgen wir diese Idee weiter, ist klar, dass die Machteliten des politisch-kapitalistischen Komplexes genauso von der Richtigkeit ihrer jeweiligen Ideen und Pläne überzeugt sind, wie Sektenführer auch.
Gleichzeitig ist die Existenz dieser Eliten ein Produkt der Masse und deren kollektiven Mangel. Diese Masse hat die Verantwortung über die Organisation ihres Lebens weitestgehend delegiert und daran gewöhnt.
Der Teufelskreis
So könnte man postulieren, dass Gesellschaften im Ganzen immer Repräsentationen kollektiver Bewusstseinshaltungen sind. Eine Gesellschaft, in der die Individuen ihre seelischen und physischen Bedürfnisse vollständig befriedigen können die Möglichkeit haben, ihre Anlagen und Talente zu leben, in denen also Sinn seine Ursache im Menschen selbst hat, hätten totalitäre Strukturen keine Chance. Ihnen würde der „Humus“ fehlen, auf dem sie wachsen können.
Die Bewusstseinsqualität erschafft die gesellschaftliche Wirklichkeit und definiert daher, was „wahr“ ist. Gehen wir davon aus, dass der Mensch gierig ist, glauben wir, unser Eigentum schützen zu müssen. Wäre der Überfluss der Welt gleichmäßig verteilt, ist es aber unwahrscheinlich, dass Gier überhaupt existieren würde. Würden Menschen die Freiheit zu echter Selbstverwirklichung haben und erleben, dass Glück kein Ereignis ist, sondern ein innerer Zustand, würde sich Gier und Gewalt erübrigen.
Würden Menschen erfahren, dass Solidarität und Empathie das eigentliche Normal des Menschen sind, sofern er sich nicht in einem Zustand latenter Angst befindet, würden die meisten Gesetze unserer gegenwärtigen Normalität überflüssig werden. Es würde deutlich werden, dass Legislative, Judikative und Exekutive Ausdruck eines negativen Menschenbildes sind, die von der Prämisse ausgehen, dass der Mensch im Kern schlecht ist und vor sich selbst geschützt werden muss. Dass er diese Eigenschaften aber erst durch eine solche Bewusstseinsverfassung entwickelt, ist der eigentliche Teufelskreis.
Nur die Liebe ist wahr
Oft begegne ich an dieser Stelle dem Argument, dass in der Tierwelt auch der Stärkere den Schwächeren verdrängt. Das sei normal und zeige die Dynamik des Lebens. Nur wird dabei übersehen, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier die Fähigkeit zu umfassender Liebe hat. Er kann diese Fähigkeit zur Maxime machen. Dabei meine ich mit Liebe nicht lediglich ein verklärtes Gefühl oder einen biologischen Affekt. Liebe kann verstanden werden als umfassendes Gefühl der Verantwortung und des Bezogen-seins auf die Mitwelt.
Bin ich verantwortungsvoll auf meine Mitwelt bezogen, handle ich automatisch nachhaltig. Ich weiß, dass die Verwirklichung meiner eigenen Interessen nicht abzukoppeln ist vom Wohl aller und der Zukunft. Ich denke und handle in größeren Bezügen.
Dazu muss der Begriff der Verantwortung in ein größeren Rahmen gestellt werden. Nach unserem gegenwärtigen Verständnis meint Verantwortung kaum mehr als Regelkonformität und Gehorsam gegenüber den selbst auserkorenen Autoritäten und deren Werten. Daraus leiten wir eine Moral ab – und müssen erleben, dass diese Moral niemals alles umfassen kann. Sie trifft immer wieder auf Kritiker und alternative Modelle. Letzten Endes führt sie buchstäblich zum Krieg der Überzeugungen und Werte.
Wir müssen uns eingestehen, dass es keine normative Moral geben kann, die ein dauerhaftes und allgemeingültiges „Richtig“ definiert.
Solche Moral wertet den Menschen ab und bleibt immer ein Konzept. Konzepte aber sind Verengungen der Wirklichkeit. Es müssen Konzepte bleiben, die erstarren und mit der Erosion der Zeit zerbrechen. Sie verlieren ihre Gültigkeit und hören auf, wahr zu sein. Dagegen stemmen sich die Systeme, die sie verkörpern. Das hat uns die Geschichte deutlich gelehrt.
Gerade werden wir Zeugen von einem erneuten Zusammenbruch eines solchen Systems. Aus seinen Überresten wird ein neues System entstehen, und es wird wie in der Vergangenheit wieder genau dem Bewusstsein der Mehrheit folgen. Das ist der Lernprozess, aus welchem heraus wir uns bisher entwickelt haben. Er macht erfahrbar, was wir wollen und was nicht, er spiegelt uns unsere Überzeugungen und unbewussten Glaubenssätze. Ist Angst die unbewusste treibende Kraft, entsteht eine Welt der Kontrolle, denn Kontrolle ist das Gegenmittel des Verstandes gegen die Angst.
Das ist nicht verwunderlich, denn jede Angst ist im Kern Todesangst. Wenn wir den Tod für unser endgültiges Ende halten und unsere Persönlichkeit für unser wirkliches Selbst, wird es unmöglich sein, das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten geschehen zu lassen.
Liebe im beschriebenen Sinne hingegen kann das. Sie anerkennt die Grenzen des Möglichen, weshalb keine Gewalt entsteht. Sie anerkennt, dass meine Sicht der Dinge meinen Bedürfnissen und Wünschen entspringt und keine allgemeingültige Wahrheit darstellt, die es durchzusetzen gilt. Sie weiß, dass Scheitern nicht zu vermeiden und lediglich die Erfüllung einer bestimmten Erfahrung ist. Sie akzeptiert, dass jede Erfahrung zum Wachstum und damit zu echtem Reichtum beiträgt und versucht nicht, das Unangenehme durch Regeln zum „Schutz“ vollständig einzuhegen und das Leben in seinem Lauf zu reglementieren. Sie versteht, dass Werden und Vergehen zwei Seiten derselben Medaille sind – auch das eigene. Die Liebe weiß, dass ich in diese Welt gekommen bin und sie auch wieder verlassen werde. Das einzige was dann für mich zählen wird, ist die Frage: Habe ich geliebt? Habe ich Liebe und damit tiefe Beziehung erfahren? Diese Liebe weiß auch, dass gesunde Existenz langfristig nur durch Kooperation und nicht im Unterdrücken des Nichtgewollten möglich ist. Sie sucht das Gemeinsame. Sie ist die Grundlage echter Toleranz, die nicht begrenzt ist und diese Grenzen immer enger steckt, wodurch unweigerlich Ausgrenzung entsteht. Deshalb gesteht jeder Liebende dem anderen sein eigenes Entwicklungstempo zu. Wettbewerb und Konkurrenz würden überflüssig, weil jeder in dem natürlichen Maße seiner Fähigkeiten produktiv wäre. Überfluss wäre nicht die Folge eines Konsumzwangs und der damit verbundenen Überproduktion, sondern der Freude am Tun selbst.
Ein in solcher Weise liebender Mensch kennt seine wirklichen Bedürfnisse und agiert daher nicht als Maske, sondern authentisch. Unbestechliche Ehrlichkeit wäre die Folge einer solchen Authentizität. Daher braucht er weder Täuschung, noch Gewalt oder Betrug als Mittel im Umgang mit seiner Umwelt einzusetzen. Stellen wir uns vor, welche Qualität jede zwischenmenschliche Beziehungen hätten!
Eine solche Liebe ist natürlich nicht möglich, solange der Mensch sich als reine Bio- Maschine sieht. Tut er das, ist eine Welt des Raubtierkapitalismus, des Transhumanismus, Digitalismus und der vollständigen Kontrolle die folgelogische Konsequenz dieses Bewusstseins. In diesem Falle nutzt der Mensch seine speziellen Eigenschaften destruktiv: seine Kreativität und seine Intelligenz münden dann in lebensfeindlichen Monumenten seines Kampfes gegen die Todesangst. Diese Monumente sind Ausdruck seines Größenwahns, mit dem er sich gegen seine geglaubte Vergänglichkeit stemmt.
Proportional dazu steigen Angst, Eifersucht, Gewalt und Kontrolle an. Frieden ist auf dieser Grundlage gar nicht möglich.
Das Gegenteil von Angst ist Vertrauen. Unter Vertrauenswürdigkeit verstehen wir gemeinhin die Verlässlichkeit im Einhalten der Konventionen: Wenn ich weiß, dass sich jemand entsprechend meiner Erwartungen verhält, „vertraue“ ich ihm. Aber dieses Verständnis entspringt unserem Versuch, aus Angst das Unwägbare berechenbar zu machen und ist eine Verengung der Wirklichkeit echten Vertrauens. Wirkliches Vertrauen grenzt nicht ein und stellt keine Forderungen. Wer vertraut, akzeptiert, dass auch das, was er vermeiden möchte, möglich und potentiell schon da ist. Er weiß, dass er Andere niemals nach seinen Wünschen formen kann und dass der Wandel das einzig Beständige ist, auch im Menschen. Echtes Vertrauen ist Hingabe an das Leben und das tiefe Erleben dessen. Dann erst wird Vielfalt jenseits des Planbaren möglich.
Unsere Wissenschaften haben in ihrer Einseitigkeit die Ordnungen der Welt zerlegt und bewerten deren Erklärungen der Prozesse (fast ausschließlich) als einzige Wirklichkeit. Es wäre an der Zeit, dieser Einseitigkeit einen Ausgleich zu verschaffen.
Wie jede Krankheit kein willkürliches Ereignis, sondern ein Symptom einer tieferen seelischen Wirklichkeit ist, könnten die Fakultäten ins Kalkül ziehen, dass die sichtbare Welt und auch ihre „Krankheiten“ Symptome einer tiefer liegenden Ursache sind.
Es ist vielleicht an der Zeit, die Existenzregeln des Lebens selbst zu erforschen. Dann könnte erkannt werden, dass alle Regeln und Normen nur in Widerspruchsfreiheit mit der nächsten Ordnungsebene Gültigkeit besitzen können. Dann müsste Wissenschaft den Übertrag schaffen, dass Nachhaltigkeit in der erfolgreichen Natur immer echte Zirkularität aufweist. Nichts anderes mehr dürfte Industriell verwirklicht werden. Keine Technologie dürfte die Biosphäre des Planeten oder ihr Gleichgewicht verletzen. Ebenso kann Ästhetik als durchgängige und daher erfolgreiche Regel der Natur erkannt werden: Jeder Eingriff in die natürliche Welt müsste sich an dieser Frage orientieren anstatt an Machbarkeit oder Effizienz. Wie würden Städte unter einer solchen Prämisse wohl aussehen? Wie Mobilität? Müssten wir noch Umweltschutz diskutieren? Was wären die Bildungsinhalte auf den Schulen?
Vom Heute zum Morgen
Natürlich muss eine solche Welt aus der gegenwärtigen Perspektive völlig utopisch erscheinen. Auch sind diese Überlegungen nicht neu. Doch es ist gerade die Fähigkeit zur Reflexion und zur radikalen Veränderung, die unser Überleben möglich machen kann. Behalten wir die alten dysfunktionalen und ausbeuterischen Ordnungen bei, werden diese von den Regeln des Lebens selbst abgeschafft werden. In den kosmischen Dimensionen der Zeit sind wir eine äußerst kurze Erscheinung. Genau genommen sind wir der archimedische Punkt jeder Evolution: es ist der Punkt, an welcher sich die Schöpfung ihrer selbst bewusst wird. Das ist Gegenstand der Geschichte vom „Sündenfall“: die Herauslösung des isolierten Bewusstseins aus dem unbewussten großen Ganzen. Ich nehme an, dass dieser Punkt zu allen Zeiten an unendlich vielen Orten im Kosmos stattgefunden hat; er ist sensibel, denn erkennt der „Mensch“, also das jeweilige Leben, welches sich bis zu diesem Punkt entwickelt hat, nicht, was es im Kern ist und hält sich für eine vom Rest isolierte Erscheinung, wird es sich durch sein eigenes Verhalten über kurz oder lang ausrotten. Es ist dann nicht in Harmonie mit dem universellen Gesetzmäßigkeiten, die auch die weitere Entwicklung bedingen. Das geschieht ständig, die erfolgreiche Passage und die Weiterentwicklung ist vielleicht die Ausnahme. Der Versuch geschieht immer wieder, auch auf diesem Planeten. Entwicklung ist eine Eigenschaft des Lebens selbst, und wir sind seine Verkörperung. Wir haben nicht nur die Fähigkeit, unser Geschick zu lenken, sondern wir tun es unablässig.
Die einzige und wirkliche Gefahr für die Zukunft ist die Unbewusstheit des Menschen sich selbst gegenüber. Befinden wir uns in der Angst, sind wir gehorsam. Wir erschaffen immer aufs neue Strukturen, die uns Sicherheit versprechen, die uns in einem endlosen „wenn-dann“ auf eine erhoffte Lösung in der Zukunft fixieren. In der Unbewusstheit können wir keine offene und fragende Haltung haben, weil wir den Erklärungen glauben, die uns von den von uns selbst eingesetzten Autoritäten schlüssig präsentiert werden. Dann hinterfragen wir nicht, und Wahnsinn wird zur Normalität. Oder wir verrennen uns in der Aufklärung, der Opposition oder Rebellion und verkennen dabei, dass all das innerhalb des „Spiels“ stattfindet und wir lediglich die Rolle spielen, die an dieser Stelle frei ist und die zur unserem Selbstverständnis passt.
Natürlich ist die Frage, was denn nun zu tun sei, im hoffnungsvollen Menschen kaum zu bändigen. Der Verstand fordert Lösungen und Antworten, und das ist auch gut so. Nur hat uns der Verstand alleine nie zum Glück geführt. Dabei ist alles Streben des Menschen darauf ausgerichtet, sich glücklich zu fühlen. Alles, was wir tun, dient im Grunde genommen dem Zweck, in uns ein bestimmtes Gefühl auszulösen. Wann also fühle ich mich glücklich? Ist es möglich, die Quelle in mir selbst zu finden? Dann wäre ich Multiplikator des Glücks, all mein Tun wäre wirklich kreativ, ich wäre wirklich lebendig. Gemeint ist hier natürlich keine hedonistische Selbstverwirklichung. Ich müsste zunächst erkennen, dass der größte Teil meines Lebens eine Reaktion auf die Mängel meiner Erfahrungen als Kind zu verstehen ist. Es ist die Kompensation der damaligen Mangelerfahrung. Die wurden in erster Linie verursacht durch die Unfähigkeit meiner Eltern. Kommen wir aus einer Familie, in welcher nicht alle Gefühle und deren Ausdruck unbewertet erlaubt war, können wir emotional gar nicht ausgereift sein. An dieser Stelle sind wir Kind geblieben und suchen noch jetzt wie ein Kind Halt, Anleitung oder Strafe. Unser ganzes Leben findet mit dieser Verzerrung statt. Das Streben nach Anerkennung, unser Körperverständnis, die Abhängigkeit unseres Selbstbewusstseins von unserer Leistungsfähigkeit, unsere Verlustangst und Besitzansprüche in Beziehungen, unsere Lebensunlust, unsere Hilflosigkeit, die sich in Wut ausdrückt – genau hier sind die Kompensationsprogramme am Werk.
Aber wir sind keine hilflosen Opfer unserer Vergangenheit und ihrer Prägungen. Es nützt auch nichts, die „Vergangenheit loszulassen“, denn sie ist ein Teil von uns. Wir können sie aber integrieren und transformieren und damit vollständig werden.
Seelisch vollständige Menschen entziehen jeder gesellschaftlichen Krankheit den Nährboden. Sie suchen ihr Heil nicht in Ideologien, politischen oder religiösen Versprechen und nicht darin, die Welt retten zu müssen. Sie kreieren ein soziales Klima der Achtung und des Mitgefühls, nicht weil das ihre Agenda wäre, sondern weil es eine natürliche Folge ihrer Bewusstseinsverfassung ist. Damit endet jeder Kampf, auch der für das vermeintlich „Gute“, weil das wirklich Gute nur ein Ergebnis einer solchen integralen friedlichen Haltung sein kann, die auch dasjenige als Erfahrung akzeptieren kann, was sie vermeiden will.
Der Friede mit sich und der Welt braucht eine weitere Formel: Finde deinen eigenen Überfluss und hilf anderen, den ihren zu finden. Das befreit vom Zwang, das Heil woanders oder in der Zukunft suchen zu müssen und dabei die Gegenwart abzuwerten. Dann ist Präsenz möglich, eben diejenige verantwortungsvolle Haltung der Gegenwart gegenüber, von der ich oben gesprochen habe. Nur im Jetzt kann ich diese Haltung haben und wirklich wirken.
Die Zukunft widerfährt uns nicht, die Mehrheit bestimmt sie. Eine Mehrheit, die Gewalt als Unterhaltung akzeptiert, die Beziehungen als Besitzverhältnis versteht, die persönliche Verwirklichung an an ihr finanzielles Einkommen knüpft, die einer Elite erlaubt, sie in Abhängigkeit zu bringen und das als Vorteil deutet, die in ihrer Existenzangst jede Freiheitsberaubung oder Bevormundung als notwendig hinnimmt, die stillschweigend mit Blick auf Kostenersparnisse eine ausbeuterische Industrie ermöglicht und Krieg toleriert. Wer das als Wahnsinn wahrnimmt, hat das System schon ein Stück weit verlassen.
Aber wie nicht resignieren? Wir sind Teil all dessen, ob wir wollen oder nicht. Wir sind aber auch Teil des Größeren, des Bewusstseinsringens des Lebens jenseits der rein biologischen Ebene und vielleicht seine Vorhut, seine Scouts. Dazu müssen wir wissen, worin wir verwurzelt sind. Solange wir identifiziert sind mit dem Oberflächenphänomen, welches wir „Ich“ nennen, kann ich diesen Horizont nicht überschreiten.
Ich muss den „ewigen Funken“ in mir finden, muss erleben, dass durch meine Augen gerade Gott sieht, durch mich das Leben fließt, welches die spezielle Erfahrung mit meinem Namen macht.
Ich muss nicht lieben, was auf der Welt geschieht, aber ich kann das Leben lieben, welches sich jeden Moment auf dieser Welt manifestiert und welches sich durch mich ausdrückt. Ich werde immer weniger Betroffener, eher Zeuge und Protagonist. Ich finde Freude am Lebendig-sein, weil ich beginne mich dafür zu interessieren, was das wirklich für mich bedeutet. Ich experimentiere, werde neugierig, ich bin frei vom Zwang zu Predigen und zu Belehren, ich höre auf, mich nur an meinen gewohnten Maßstäben zu orientieren. Ich bin nicht mehr auf eine Wahrheit festgelegt. Das ist ein Prozess, in dem das Leben beginnt, auch mir in neuer Weise zu begegnen. In diesem offenen Prozess lerne ich mich selbst neu kennen.
Und natürlich dürfen wir nie vergessen, dass jeder Impuls und jede Aktion immer auch gleichzeitig ihr Gegenteil erschafft. Mit jedem Verbot und jeder Unterdrückung entsteht eine neue, kreative Forderung nach Freiheit, ein neues Ausmitteln geschieht und altes und unbewährtes beginnt sich aufzulösen. Jedes Unglück stellt die Frage nach der Natur des Glücks neu. Alles Leid trägt in seinem Gepäck auch sein Gegenteil mit sich. In dieser Hinsicht brauchen wir nur geduldig sein.