BLOG

Eindeutig!?

 

Angriff auf das Individuum

In uns Menschen herrschen zwei widersprüchliche Kräfte, deren Balance verantwortlich für ein friedliches Leben ist. Zum einen ist da der Wunsch nach Stabilität und zum anderen der Wunsch nach Veränderung und Erneuerung. Es liese sich sogar sagen, dass das „Böse“ durch ein Ungleichgewicht beider Kräfte entsteht. Zuviel Stabilität normiert und lässt das Leben erstarren, was unweigerlich unangenehm wird. Das System dient nicht mehr, es wird zum Herrscher. Seine Forderungen müssen früher oder später mit Gewalt verteidigt und durchgesetzt werden. Zu rasche Erneuerung übergeht Teile der Gesellschaft und reißt sie entweder mit oder schließt sie aus. Das Individuum ist in beiden Fällen der Verlierer.

Gesellschaftlicher Wandel ist weder durchweg die Folge sozialer Notwendigkeiten, noch das Ergebnis einer kritischen Auseinandersetzung der Mehrheit mit den bestehenden Normen. Es ist ein natürlicher Prozess, der einem gesunden Tempo folgen muss, welches nicht steuerbar ist.

Die Frage der Existenz an jeden Einzelnen „Wer bist du?“ scheint mühsam zu beantworten in einer Welt, die sich anscheindend vollständig erfassen lässt und dadurch überschaubar und verstehbar geworden ist. Toleranzzwang macht in Folge dessen intolerant gegenüber denen, die in ihrer Haltung nicht alles inkludieren möchten, derer, die Traditionen für mehr erachten als überholte Gewohnheiten und die die Quelle ihrer Individualität in ihrer Fähigkeit zur intellektuellen Autonomie wissen. Fundamentalismus bleibt bekanntlich nur für den Fundamentalisten selbst unendtdeckt.

Eigentlich ist es kein Geheimnis, dass erst in der Uneindeutigkeit Kreativität möglich ist, eine Entwicklung hin zu einem „Neu“; doch das Gleichgewicht zwischen Entwicklung und Konsolidierung ist fragil.

Galt über Jahrhunderte hinweg als „böse“, was dem traditionell, etablierten Kodex zuwider lief, ist heute „böse“, wer nicht bereitwillig alles Neue oder neu Installierte aufnimmt. „Woke“ ist „Erwacht“, aufgeklärt. Aufgeklärt ist beispielsweise, wer die Zersetzung nationaler und traditioneller Identität unterstützt oder zumindest akzeptiert. Der „Wandel von Oben“ erscheint erschreckend selbstverständlich und wird von der Mehrheit bereitwillig angenommen. Dabei braucht es heute keinen aktiven Schritt zum Bekenntnis zum „wahren Glauben“ mehr wie eine Konvertierung oder einen Parteiausweis. Selbst diese Quasi- Freiheit wurde im verordneten Strom der politischen Korrektheit überflüssig.

Eindeutigkeit vereinfacht, leicht erkennt man die Abweichler, die eine Bedrohung für die zentrale Systemstabilität bedeuten. Wahr ist nicht das Bewährte, weil die Krise die Dysfunktionalität dessen bewisen hat, und Krisen erlauben keine Ambiguität.

Entsorgt man überkommende Werte wie Geschlechteridentität, Traditionsbewusstsein oder Diskurskultur zugunsten einer weitestgehend vereinheitlichten Meinung, verliert das Individuum seine Hoheit an das Kollektiv. Der Versuch, Ambiguität zu eliminieren ist keineswegs neu, aber immer ein Merkmal erstarrender Strukturen im letzten Lebensabschnitt. Religiöser und politischer Totalitarismus zielen immer auf eine Zersetzung des Individuums ab. Die Quelle der Innovation aus Intuition, Erfahrung, Diversität und des lebendigen Austausches ist eine Bedrohung für die künstliche Einheit, die in Wirklichkeit Einfalt ist.

Damit wird unausweichlich klar, dass es den Initiatoren der Vereinheitlichung nie um das Individuum und seine Entwicklung und Freiheit geht.

Nun aber ist Toleranz per Definition das Ergebnis der Fähigkeit zur Ambiguität. Umgekehrt sagt die Toleranz der Mehrheit dieser Tage gegenüber der stattfindenden Vereinheitlichung der Welt viel über die Reife einer Gesellschaft aus: Sie hat in hohem Maße ihre Fähigkeit zur Kritik und Differenzierung aufgegeben.

Folgt man der Spur der Vereindeutigung der Welt weiter in den Kaninchenbau wird sichtbar, dasssolche Tendenzen grundsätzlich dem Leben entgegen gesetzt sind. Leben ist spontan, autopoietisch, also aus sich selbst heraus. Seine Quellen und Dynamiken liegen weitestgehend verborgen, sie sind nicht kalkulierbar oder kontrollierbar. Doch Glück und Sinn des Einzelnen haben genau dort ihren Ursprung. Ist der Mensch nicht dort unmittelbar angeschlossen, ist er zum Opfer einer lebensfeindlichen Agenda geworden.

Der Verlust der gesellschaftlichen Mitte ist der Beginn der Verabsolutierung der Welt. Eine durchbürokratisierte, hochtechnische Welt soll einzig Selbstzweck werden. Sie muss die Lebenswirklichkeiten begrenzen, damit die Menschenherde lenk- und nutzbar bleibt.

Ein Fazit? Zu oft sind es liebgewonnene Denkgewohnheiten, welche Meinungen gebildet und unantastbar gemacht haben. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit maskiert sich nicht nur im Mainstream als Vernunft oder Wissen. Weder im propagierten noch in der Oposition dazu wird Geistesfrieden zu finden sein.

Wir halten gerne für wahr, was unserer Erfahrung am sympathischsten ist. Wo bin ich am meisten Mensch: im Kopf oder im Herz? Das Herz ist nicht zu trennen, das ist nur im Verstand möglich, der ein Richtig und Falsch im Außen zu erkennen fordert. Im Herzen hingegen erkennen wir das Gemeinsame, dort haben Mitgefühl und Verständnis ihren Ursprung. Zuerst sind wir Menschen, alle mit denselben Grundbedürfnissen- das ist die einzige Eindeutigkeit. Nur wo wir wirklich Mensch sind, können wir sinvoll und nachhaltig sein und entscheiden. Wo wir Mensch sind, wird Gewalt an uns selbst und an anderen unmöglich.

Ausstiegsberatung Logo with Thinking Head
© Copyright 2019-2025 Austiegsberatung - Hilfe, Rat und Unterstützung Ver 0.99.5 crafted by la-palma-web.digital