Mein Leben bei den Zeugen Jehovas

Das versprochene Paradies: ein (Rück-)blick auf die Glaubensmechanismen
AusstiegsCoach Marcus Michael Zeller
1. April 2022
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Lesedauer: 18 Minuten
Mein Leben bei den Zeugen Jehovas

Merkens-Wert

Denkens-Wert

Ich bin in einer christlich-fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft, nämlich bei den Zeugen Jehovas, aufgewachsen. Auch als Erwachsener habe ich mich immer noch vollständig mit diesem Glauben identifiziert. Erst im Alter von Mitte Dreißig kam es zu Zweifeln, die schließlich zum Bruch mit den Zeugen Jehovas führten.

Ein analytischer Querschnitt meiner Biographieer erschien bereits in der Ausgabe 9/2020 der Zeitschrift “Tattva Viveka”.

Harmagedon – ein Wort, welches eine ständige Präsenz in meinem Leben als Kind und als Jugendlicher hatte. In seiner Bedeutung und Gewichtung lag es vermutlich höher als beispielsweise „Klimawandel“ bei heutigen Heranwachsenden.
Harmagedon, der „Eingriff Gottes auf der Erde“, war Ziel und Ausrichtung, kataklysmische Katastrophe und Erlösung gleichzeitig. Bedrohlich hing es als Damoklesschwert über jedem Tag, denn „niemand kennt Tag und Stunde“, weshalb es sich dringend empfahl, immer ein gottgefälliges Leben zu führen, denn bei seinem Eintreffen zählte eben nur das.

Glaubensgemeinschaften mit einer eschatologischen Ausrichtung (die also auf das Ende der Welt hin ausgerichtet sind) sind eigentlich keine Glaubensgemeinschaften, sondern Hoffensgemeinschaften. Der Einzelne kann nur hoffen, dass er am Tage des Gottesgerichts „treu“ geblieben ist: treu der Summe aller Lehren, die vom göttlich eingesetzten Kanal, das Zentralorgan der Organisation, kolportiert werden. Klar, Inhalt und genaue Zusammensetzung dieser Lehren wandeln sich im Laufe der Zeit. Deshalb ist es wichtig, immer am Puls der Zeit zu sein, d.h. mit dem aktuellen Stand dieser Lehren vertraut zu sein. Das ist nur durch eine bedingungslose Nähe zur Gemeinschaft zu gewährleisten. Bedingungslos meint dabei auch, Form und Inhalt aller Lehren ohne Kritik zu übernehmen, denn darin zeige sich wiederum echter Glaube, der dann bei Eintreffen des jüngsten Gerichts schicksalhaft entscheidend ist.

Wenn sich Glaube gerade dadurch auszeichnet, seine spezifische Form durch die Dynamik zu erhalten, dass er im Spannungsfeld zwischen Hoffen, Transzendenz, Kritik und Erfahrung im Individuum immer neu austariert wird, findet in der Sekte durch Dogmatisierung eine Verkehrung und Pervertierung dessen statt. Es sind „Dimensionen von unvermeidlicher Ungewissheit, die durch Dogmatisierung in Gewissheit umgelogen werden“, wie es Peter Sloterdijk auf den Punkt bringt (in: „Kritik der zynischen Vernunft“, S.548). Diese Gewissheit wird dann als Indiz für die „Wahrheit“ des Geglaubten gedeutet. Der Glaube wird zum Objekt gemacht. Er ist in seiner Einfachheit eine Tatsache. Umgekehrt macht er mich zum Objekt: ich bin in meiner Individualität nachgeordnet, wichtig ist meine Funktion als Erhalter und Ausführer des formellen Glaubens. Ich werde „Systemrelevant“.

Mein Lebensgefühl zwischen Paradies und Harmagedon

Irgendwie war da auch immer eine seltsame Vorfreude auf dieses Ereignis „Harmagedon“. Nicht nur, weil es das goldene Zeitalter in Form des wiederentstandenen Paradieses auf Erden einläuten sollte, sondern auch, weil es das spektakuläre Ende allen Bösen auf der Welt bedeutete. Nicht nur des abstrakten Bösen, also des ganzen Leids dieser Welt, all-abendlich einsehbar in der „Tagesschau“. Es würde auch das Ende des Bösen in Form der lästernden Kollegen und Schulkameraden sein, die nie einsehen wollten, das sie blind für das Offensichtliche und das Heilige waren, als dessen Vertreter ich mich fühlte. Das war doch nur gerecht, denn wofür predigte ich denn eigentlich? Klingelte samstagvormittags die Leute vom Frühstückstisch oder dem Bastelkeller weg? Damit war das Gewissen nämlich rein gewaschen, da jeder der Herausgeklingelten mit seiner Reaktion nun über seinen eigenen Stand vorm Höchsten entschied.
Befeuert von den unzähligen Hänseleien bis hin zu Handgreiflichkeiten in der Schule und der in der Ausbildung, war da in mir schon ein wenig Genugtuung bei der Aussicht auf Harmagedon. Der Spott war andererseits auch Teil des Selbstverständnisses. Auch Jesus Christus wurde verspottet. Für die wissende Minderheit ist der Spott quasi die Bestätigung der eigenen Richtigkeit durch die unwissende Welt. Ich sehnte mich nach einer konfliktfreien Welt. Dort wollte ich hin, gegen den Strom, „with god on our side“, wie Bob Dylan es singt.
Natürlich tauchte ab und zu mit fieser Grimasse die ur- Ethik aus den Propaganda- unberührten Tiefen meines Selbst auf. War das alles wirklich gerecht? Natürlich! Denn Gott hatte immerhin auch eine Sintflut über die Menschen gebracht, die ähnlich undifferenziert Gut von Böse trennte. Schon immer war Gott gerecht, und wenn mein Verständnis noch nicht dahin reichte, dann war es einfach noch nicht genug trainiert. Und Vorsicht: ein „rebellischer Geist“, also die Neigung, Dogmen auf ihre Validität und Viabilität hin zu überprüfen, zählt per se’ schon zum „Bösen“. Die Treue zu „Gottes irdischer Organisation“, ist eben ein zentrales Glaubensmerkmal. Diese Treue ist nicht unbedingt eine innere Haltung der Toleranz, die man Freunden oder Partnern gegenüber pflegt. Diese Treue meint schlichtweg Konformität. Die Deutungshoheit der heiligen Schrift liegt eben nur dort, und meine fortgeschrittene Weisheit in der genauen Wiedergabe dieser Deutung durch das geistige Zentralorgan. Nicht die Bibel selbst, wie ich sie verstand oder was ihre Aussagen für mich bedeuteten, ist ausschlaggebend, sondern der Grad meiner Synchronisiertheit mit der aktuellen Deutung.

Ein un-authentisches Leben

Weil Harmagedon immer sehr nah war, quasi „vor der Tür“ stand, waren die Anstrengungen in dieser Welt mit ihrer dahin-schmelzenden Haltbarkeit auf ein Minimum zu beschränken. Die Lebenskraft setzt man bitte gerne und großzügig für Gottes irdisches Werk ein. An einen Hochschulabschluss oder gar ein Studium war von vorneherein ausgeschlossen, da dort die Konfrontation mit der Evolutionstheorie drohte, welche den Glauben zu unterminieren vermochte. Das wussten mir meine Eltern auch überzeugend und mit großer Selbstverständlichkeit zu vermitteln. Es bedeutete praktisch, so schnell wie möglich die Schule abzuschließen und etwas „brauchbares“, sprich etwas lebenspraktisches zu lernen, denn: das würde in der Zeit nach Harmagedon wichtig werden. Dann würde es gelten, aus dem Trümmerfeld, welches Gottes gerechter Krieg hinterlassen hat, ein Paradies zu machen. Nach einer begonnenen ForstwirtsAusbildung, die ich wegen allzu heftigen Mobbings in der Schule abbrach, lernte ich KfzMechaniker. Dort war ich ebenso falsch aufgehoben wie der Klosterschüler bei einer Berliner Strassen-Gang. Aber da Leiden zum grundsätzlichen Selbstverständnis und damit zur alltäglichen und nicht zu hinterfragenden Wirklichkeit eines gottgefälligen Lebens gehörte, ging ich auch da durch. Man ist eben nicht sich selbst, man ist anders. Und man ist es irgendwie auch gerne, denn Gott hat ein auserwähltes Volk, so das gemeinsame, identitätsstiftende Narrativ. Sich als Teil dieses Volkes zu wissen, gleicht doch einiges aus. Das dieses Volk eine homogene Masse darstellt, die durchgängig im Denken, im Weltverständnis und in ihrer Wertesetzung gleichgeschaltet ist, ist nicht weiter schlimm. Wir sind alle immerhin „Brüder und Schwestern“, das vertraute „Du“ simuliert Nähe und Vertrautheit.
Authentizität ist ein Wort, welches ich erst Ende 20 zum ersten Mal gehört habe. Konformismus ist ein hohes Ziel innerhalb der Sekte, Angepasstheit ein Zeichen von „Reife“ im Sinne der Ideologie. Immer schwingen bei solchen Worten die internen Aufladungen mit. „Loaded Language“, aufgeladene Sprache, so der Fachterminus, „Neusprech“ nennt es Huxley in seinem Roman „1984“. Dabei werden Wortebedeutungen mit System-internen Vorstellungen „aufgeladen“ und verlieren dabei ihren kulturell spezifischen und allgemeingültigen Charakter. Der Einzelne verliert schließlich unbemerkt die Fähigkeit, Begriffen eine persönliche „Färbung“ durch die eigene Erfahrung zu verleihen. So verliert Sprache Ausdruckskraft und vereinheitlicht und verflacht die individuelle Wirklichkeit. Dadurch manipuliert sich jeder selbst.

Zuhause in der Ideologie

So eine gemeinsame Sprache verbindet natürlich auch und was verbindet, schafft eine geistige Heimat. Und da die schönste Heimat meist in der Provinz liegt, wagt man sich geistig auch nicht so weit in die Welt hinein. Die Geborgenheit gibt Sicherheit, eine Sicherheit der Antworten. Wenn ich eine Frage hatte, konnte ich in der Sekten- internen Literatur, welche ja direkt durch Gottes Kanal zu uns gekommen war, auf so ziemlich alles eine plausible Antwort finden. Natürlich wurde diese Antwort nie inhaltlich auf Stichhaltigkeit abgeklopft, sondern sie fand unverändert einen Platz in der Sammlung meiner Welterklärungen, wo sie sich im Kontext ihrer Verwandten harmonisch einfügte. Die innere Logik ist unangreifbar. So ist das mit der Wahrheit eben.

Gott selbst ist auch nie weit. Er ist keine ungreifbare, abstrakte Macht. Er ist uns so ähnlich! Er hat einen Namen, ich kann ihn erfreuen, aber auch tief enttäuschen, er liebt mich – wenngleich nicht bedingungslos-, aber er ist wie ein strenger, wohlwollender Vater. Gut, ein wenig hitzköpfig ab und zu, aber umso mehr Respekt hat man ja dann. „Unsicher- ambivalente Bindung“ nennt das die Entwicklungspsychologie. Man weiß nie ganz, woran man ist, mit der Macht-innehabenden Person, von welcher man dummerweise abhängig ist. Trotzdem ist das Verhältnis ein sehr persönliches. Es
werden keine auswendig gelernten Gebete heruntergeleiert, sondern das Innere darf unzensiert vor ihm ausgebreitet werden. Und im Falle eines „Fehltritts“, also einer Tat, die als „Sünde“ gelistet ist, muss das sogar zwingend sein.

Glaubenshüter Gewissen – und seine „Helfer“

Das konnte – in Abstufung der Schwere- natürlich auch schnell geschehen. Das durch die Indoktrination „geschulte Gewissen“, analog zu Freuds Über- Ich, hatte für fast alles eine Anweisung parat. Spontane Verführung oder Experimentieren mit dem anderen Geschlecht, mit sich, oder ähnliche Vergnügungen verboten sich von selbst und alleine Gedanken in diese Richtungen konnten zu schweren Gewissensbissen führen – natürlich immer in Verbindung mit der Angst vor Harmagedon. Genügte das eigene Gebet nicht oder wurde eine Verfehlung bekannt, kam „Unterstützung“ von einem „Komitee“, einem Ausschuss entsprechender Würdenträger, Wächter des Guten und Reinen, die nach der gründlichen Beichte „liebevollen Rat erteilen“ und über Höhe und Art eventueller Sanktionen entschieden.

Das Perfide an der Form der „Schulung“, also der Indoktrination (es muss so genannt werden, denn eine Abweichung oder eine individuelle Interpretation der Inhalte sind nicht erlaubt) ist, dass es überwiegend durch sich selbst geschieht. Ein jeder „studiert“ die Publikationen und andere Medien des Zentralorgans selbst, er arbeitet selbst an der Verinnerlichung der Inhalte, er passt seine Persönlichkeit dem vereinheitlichtem Dogma an. Das Ergebnis ist ein „Uniform- Glaube“, eine Gottesnähe im Eltern- Kind- Verhältnis. Und alle „Brüder“ achten gegenseitig auf entsprechende Linientreue.

Schmerzhafte Diskrepanzen

Nein, Geburtstags- oder Weihnachtsfeiern habe ich nicht wirklich vermisst. Distanz zur „Welt“ gehörte nun einmal zum Verständnis von “Heiligkeit“. Heiligkeit ist ein dem Menschen innewohnendes Bedürfnis. Das Gefühl der Heiligkeit macht ihn zu etwas Besonderem; er ist nicht länger nur passiver Teil eines großen, nicht greifbaren Prozesses. Er erlebt sich im Heiligen als aktiv und bewusst damit verbunden – das Heilige ist das Erwachen des Göttlichen zu sich selbst. Aber es braucht das Profane dazu, vielleicht sogar den Antagonisten als Feindbild, und das ist nun einmal für den Gläubigen die „böse“ Welt, zu der es Distanz zu wahren gilt. Als Teenager führte das bei mir immer wieder zum Doppelleben. Alkohol, „falsche“ Musik, ein Flirt, mal eine Zigarette – die Gewissensbisse, die solche Exkurse mit sich brachten, waren heftig. Ich glaubte jedes Mal, Gottes Gunst und damit meine Zukunft verspielt zu haben.

Möglicherweise hat mich diese Distanz natürlich auch vor unangenehmen Erfahrungen geschützt. Dennoch ist der Preis für diesen Schutz hoch: eine gesunde Reifung durch Ausmittelung der eigenen Bedürfnisse, der Abgleich dieser durch Reibung an der sozialen Umwelt kann nicht oder nur einseitig stattfinden.
Je größer die Summe der Lebenspraktiken, in denen man sich von der „Welt“ unterscheidet, umso näher ist man Gott. Es ist die klassische Funktion von Feindbildern, die die Absurdität der eigenen Glaubensgebilde unsichtbar werden lässt. Eine Ideologie kann dann Formen annehmen, die kaum mehr Grenzen innerhalb des gesunden Verstandes oder der allgemeinen Erfahrung haben. Gott ist eben auch „anders“, die „Welt“ hat sich so sehr von ihm entfernt, dass kaum mehr eine Ähnlichkeit zu ihrer göttlichen Abstammung zu erkennen ist. Sie ist nicht zu retten. Daher ist ihre Beseitigung – de facto ihre Vernichtung- die einzige Lösung. Danach kommt der „Reset“, die Welt, wie sie eigentlich sein sollte, wie sie von Gott gemeint war. Die darin schlummernden Widersprüchlichkeiten bleiben unsichtbar, auch wenn sie von außen überdeutlich sind. Wer darin nicht eine göttliche Gerechtigkeit und Liebe erkennt, ist eben noch verblendet.

Von wem? Achso, von Satan natürlich. Der ist nämlich der große Verführer. Er steckt so ziemlich hinter allen Versuchungen. Der Mensch ist also immer auch Opfer, nie ganz autonom in der Gestaltung seines Schicksals. Im Prinzip sind wir Menschen Protagonisten eines kosmischen Spektakels, einer Wette zwischen Gott und seinem Gegenspieler, dem Teufel. Entscheidet sich der Mensch für Gott oder gegen ihn? Gewinnt das Gute oder das Böse? Natürlich ist dieses Spiel vom Teufel so gut maskiert, dass es keinem mehr auffällt. Daher hat er sozusagen auch die meisten Spielfiguren auf seiner Seite gesammelt. Zum Glück ist Gott stärker und ein schlechter Verlierer.
Gott ist nämlich in unserem Modell nicht völlig frei. Er ist gewissermaßen auf unsere „Anbetung“ angewiesen. Ansonsten könnte er die Welt ja lassen, wie sie ist und bräuchte nicht für deren Erneuerung zu sorgen! Also trage ich als kleiner Mensch eine gewaltige Verantwortung: Gottes Ruf steht auf dem Spiel und nur wir Menschen können ihn retten! Zum illustren Publikum gehören natürlich himmlische Wesen wie Engel… und nein, auch diese haarsträubende (Un-)Logik fällt nicht auf, wenn man sich auf der hellen Seite wähnt. Denn es gibt einen gut funktionierenden Mechanismus der Kritikabwehr. Im Prinzip verfügt jeder Mensch darüber, denn sonst könnte er seine Identität nicht durchgängig aufrecht erhalten: es ist nämlich kaum möglich, die Vorstellungen, die wir persönlich von der Welt haben, andauernd aufs Neue zu Hinterfragen. Wird aber „persönlich“ deckungsgleich mit einer Ideologie, müssen diese Abwehrmechanismen verallgemeinert und normiert werden. Sie müssen regelmäßig gewartet und aktualisiert werden. Jedes „Update“ muss installiert werden, eine individuelle Angleichung funktioniert nicht. „Mit der Organisation Schritt halten“ lautete die Begründung, die eine Dynamik vorgaukelte, die es nicht gibt. Ich habe das später eifrig von der Bühne aus meinen „Brüdern und Schwestern“ gepredigt. Meine Überzeugung war dabei durchgängig echt. Tondokumente aus dieser Zeit verstören mich heute immer noch.

Der Sinn des Lebens? Die Zukunft!

Ja, natürlich, es ist im Kern ein naiver Glaube. Aber gerade in seiner Einfachheit liegt der Reiz, die Nähe Gottes zum „Volk“, nicht seine Unergründlichkeit, sondern das Klare und Polarisierte, was die „Wahrheit“ so deutlich und die „Gute Botschaft für alle Völker“ so verständlich macht. Die Falle heißt Selbstverständlichkeit. Die Gewohnheit des Selbstverständlichen lässt das Hohle, Geistlose, das Unlogische und das Widersprüchliche unsichtbar werden. Es ist ein Leben in der Warteschleife: das versprochene Paradies, das vor der Türe steht, welches man sich und anderen predigt, das aber nie kommt. Die Gegenwart dient nur der imaginierten Zukunft, in welcher dann das „wirkliche“ Leben beginnt. In dieser Hoffnung wachsen Menschen auf, werden alt und sterben. In der Gegenwart lebte ich wie alle meine Brüder und Schwestern mit einem „Gefühl der Dringlichkeit“, welches uns motivierte, „reichlich beschäftigt zu sein im Werke des Herrn“- eben nicht im Dienste des eigenen Lebens. Gott und ich, seine Interessen und meine, das sind eben in einem solchen Glauben völlig getrennte Dinge. Er braucht mich und ich brauche ihn, so die Prämisse, und ganz glücklich sind wir beide damit nicht.

Totalitarismus in solch „weichen“ Strukturen ist fast nur von außen erkennbar, von innen nur sehr schwer. Und wenn er „von Innen“ erkannt wird, weil die Kritikabwehr nicht mehr durchgängig funktioniert und sich nicht mehr gegen die eigene Person richtet, gibt es kaum mehr einen Weg zurück. Ein Zersetzungsprozess beginnt, der immer mehr Nahrung findet. Die Lehren und Glaubensinhalte zeigen Widersprüchlichkeiten, die eigene Glaubenspraxis wird als unstimmig erfahren. Man ist auf einmal im Kampf gegen sich Selbst. „Floating“, ein Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren, setzt ein. Das Gewissen brennt durchgängig, denn es ist jetzt ständigen Attacken ausgesetzt. Zum einen scheint die geliebte Überzeugung, der man letztendlich sein ganzes Leben geopfert hat, auf einmal auf wackeligen Beinen zu stehen: soll das alles umsonst gewesen sein? Der ganze Verzicht, das stille Leiden unter Spott und Ausgrenzung? Die tausenden von investierten Stunden, die omnipräsente Anspannung, die man sogar mit in den Urlaub genommen hat? Die riesige Überwindung jedes Mal aufs Neue wenn’s ans Missionieren bei Wind und Wetter ging? Und überhaupt: es kann doch nur eine Wahrheit geben?
Zum anderen schimmert der böse Verdacht durch, dass da tatsächlich etwas „nicht stimmt“. Dann müsste das aufgeklärt werden, nicht zuletzt auch um der Ehre Gottes Willen. All das ist unglaublich zermürbend. Kaum eine Sekunde, in welcher meine Gedanken nicht um diese Fragen kreisten.

Beginnende Zweifel

Dieser Zustand stellte sich bei mir Mitte dreißig ein und er war meinem Hang zur Gründlichkeit zu verdanken. Tatsächlich glaubte ich, die „Organisation Gottes“ deute lediglich Details der heiligen Schrift unzureichend, und es bedürfe nur der gründlichen Nachforschung, um die Widersprüche aufzuklären. Stattdessen wurden derer mehr, je tiefer ich grub. Ich verbrachte über ein Jahr lang jeden Abend mehrere Stunden damit, die Inhalte der Glaubenslehren zu überprüfen und unterhielt einen engen Emailkontakt mit einem Freund, der sich bereits von der Gemeinschaft distanziert hatte, ohne dessen Unterstützung ich wahrscheinlich in eine noch tiefere seelische Krise gestürzt wäre.

Unausweichliche Konsequenzen

Der Point of no Return ist schnell überschritten, verpflichtet man sich zur schonungslosen Ehrlichkeit mit sich selbst. Die alte Heimat muss aufgegeben werden. Nach der inneren Kündigung verbleibt noch ein wenig Restschwung, besonders auch, um die freundschaftlichen Bindungen nicht allesamt sofort kappen zu müssen. Denn genau das ist in letzter Konsequenz nötig. Der Austritt ist ein Austreten aus einer warmen, aber engen Stube in eine weite, aber frische Welt. Nun müssen alle Fragen noch einmal beantwortet werden. Der Horizont ist auf einmal in weite Ferne gerückt. Das eigene Leben, die eigenen Werte müssen völlig neu justiert werden. Neue Lebenswelten müssen erschlossen werden, ohne dabei übers Ziel hinauszuschießen: die Verlockung ist groß, denn jetzt „darf“ auf einmal alles sein. Ich hatte als Musiker und Motorradliebhaber zu meinem großen Glück einen Freundeskreis außerhalb der Gemeinde, was eigentlich eine Seltenheit darstellt. Ich weiß nicht, wie es mir ohne diesen ergangen wäre. Nachdem ich meinen Austritt offiziell erklärt hatte, zogen sich meine Eltern und sämtliche Familienmitglieder, die der Glaubensgemeinschaft angehören, von mir zurück. Es gab nur noch einen gestelzten Kontakt zu offiziellen Anlässen. Auch gibt von dort keinen Respekt vor meiner Haltung, denn ich habe ja den wahren Glauben und Gott verraten, „ihn Gott vor die Füsse geworfen“, wie es meine Mutter ausdrückte. Dabei interessierten die Gründe genausowenig, wie meine Beteuerungen, dass ich mich immer noch dem christlichen Glauben verpflichtet fühlte.

Ein Blick zurück

Warum glaubte ich diesen Glauben? Ich würde sagen, es waren mein Wunsch und meine Überzeugung, dass die Welt eine bessere sein könnte. Und auch, dass ich mit meinem Leben in diesem Glauben einen Beitrag dazu leisten könnte. Jetzt, über zehn Jahre danach, glaube ich immer noch, dass die Welt eine bessere werden könnte; aber nun frei von Dogmen. Ich erlebe jeden Tag frisch und neu. Eine gesunde Skepsis ist geblieben und ein kritischer Blick auf Eingefahrenes und Selbstverständlichkeiten. Es dauerte allerdings lange, bis ich lernte, die Prioritäten in meinem Leben selbst zu wählen und durchzusetzen und lernte, überhaupt meine spezifischen Bedürfnisse zu erkennen. Ich hatte bis dahin noch nie mein Leben gelebt. Ich entdecke auch immer wieder ein gewisses Getrieben-sein in mir, eine drängende Rastlosigkeit, ein „schlechtes Gewissen“ in Momenten der Ruhe und des Nichts-tuns. Die Angst, wertvolle Zeit zu „vergeuden“, ist tief eingegraben in mir: Harmagedon drängt sozusagen noch immer.

Inzwischen ziehe ich daraus Kraft: die Gegenwart ist alles was ich habe und dieses Bewusstsein verleiht meinem Leben Tiefe.

Mein Glaube ist stärker als je zuvor- nur richtet er sich nicht mehr nach Vorgaben und Konventionen, sondern hat seine Quelle in mir. Diese Glaube umfasst auch mehr als es ein angelernter Glaube je könnte: er umschließt alles, er schließt nichts aus und überzieht die Welt nicht mit einem „Müssen“. Er teilt die Welt nicht auf in Gut und Böse, nicht in belebt und unbelebt. In diesem Glauben ist der Zugang zur „göttlichen Sphäre“ überall und immer vorhanden.

Ich hadere daher nicht mit den Jahren bei den Zeugen Jehovas. Erst dadurch bin ich zu den Erfahrungen fähig, die ich heute machen kann. Und dafür bin ich sehr dankbar.

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