Wegoptimierte Menschlichkeit
„Quo vadis?“ – „Wohin gehst du“? Oder „wohin willst du gehen?“ war eine Frage, die Jesus kurz vor seiner Hinrichtung von seinem Jünger Petrus gestellt bekam. Eine symbolische Frage, die Grundsätzliches verdeutlichen wollte. Es ist nützlich, Fragen dieser Art von Zeit zu Zeit neu zu stellen.
Wohin will der Mensch heute? Will er überhaupt dorthin, wohin es „offiziell“ gehen soll?
Transhumanismus ist das bedeutungsschwere Wort, das scheinbar alternativlose Ideal unserer aller Zukunft. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung medizinischer Möglichkeiten, einem längerem Leben oder ähnlichem.
Ich lese bei FUTURA.de: „Raymond Kurzweil, Leiter der Technikabteilung bei Google, behauptete vor einigen Jahren, dass das Gehirn des Menschen bis 2030 direkt mit dem Internet verbunden sein würde, um Zugang zu einer riesigen Menge an Informationen zu haben. Diese Denkweise wird unter anderem von Elon Musk, dem Gründer von Tesla, Space X und Neuralink, geteilt, der 2017 erklärte: „Wenn du die Maschine nicht schlagen kannst, ist es am besten, selbst eine zu werden“.
Es ist klar, dass eine geplante Verbesserung des Menschen seine Natur beschneiden und seine Freiheit massiv einschränken kann. Bevor dieses von technophilen Eliten geschaffene Ideal also klangheimlich und unbemerkt zur Selbstverständlichkeit wird und damit in unserem Wortschatz und unserem Denken Einzug hält, sollten wir es einmal unter die Lupe genommen haben.
Technologische Metaphysik
„Trans“ bedeutet „über etwas hinaus“. Was möchte man denn im Transhumanismus „überschreiten“? „Transzendenz“ kennen wir schon länger. Dieser Begriff bezeichnet das Überschreiten des gegenständlich Fassbaren. In Religion und Spiritualität versucht der Mensch mittels verschiedener Praktiken, die eigene Existenz zu überschreiten und Zugang zu den Dimensionen „dahinter“ zu erlangen. Dabei ist es nicht so, dass diese Dimensionen vom Menschen nicht erfassbar wären, sondern gerade weil sie dem Menschen zugänglich sind, kann er erkennen, dass er ihnen entstammt und angehört. Er erlebt auf eine einzigartig individuelle Art, dass das eigene Leben mehr ist, als er alltäglich erfasst. Transzendenz bindet den Menschen im Kosmos ein, er überschreitet darin sein alltägliches Sein. Eine solche Erfahrung ist nicht generalisierbar. Sie erschüttert den Menschen tief, sie ergreift ihn, und in dieser höchst individuellen Erfahrung findet er einen tieferen Sinn.
Auch der Transhumanismus will das Menschsein überschreiten, allerdings auf einem ganz anderen Wege. Dieser Weg lässt eigentlich gar kein Platz für das Menschliche, weil er eben genau dessen Eigenschaften abschaffen will: Intuition, Stimmung, Verfassung, eben eine gewisse Unberechenbarkeit – all das sind Quellen potentieller Schwäche, die ausgemerzt werden soll. Der Transhumanist glaubt nicht an Welten jenseits des Messbaren, Gefühl und Stimmung sind für ihn – wie Bewusstsein überhaupt – reine Phänomene biochemischer Natur. Ein echtes „Trans“ kann es daher gar nicht geben, weil er gar nicht daran glaubt. Seine Vision der Apotheose („Gottwerdung“) ist der technische Weg. Sein „Trans“ ist ein auf Rechenleistung reduziertes Seins- Surrogat.
Das ist natürlich nur deshalb möglich, wenn das Menschenbild ein technologisches ist: Darin ist der Mensch zu optimieren und im Sinne seiner „Nutzbarkeit“ zu „verbessern“. Dahinter steht eine utilitaristische Ethik, die im alten Bibelwort „wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ und der christlich- abendländischen Schuldkultur ihre Wurzeln hat.
Die Ethik des Transhumanismus ist ein Produkt dieser Tradition, in der der Mensch per se ungenügend ist, in der sein Fleiß und seine Selbstverleugnung gefordert sind, er aber doch nie ganz ohne die göttliche Gnade frei werden kann und daher der Erlösung bedarf.
Bedarf der Mensch der Verbesserung?
Der Mensch wird krank, er altert und stirbt. Statt hinter diesen Gegebenheiten aber einen Sinn zu finden, der uns in die natürlichen Zyklen unserer Heimatwelt anbindet und denen individuelles Wachstumspotential innewohnt, möchte sie der Transhumanist überwinden. Das führt zwangsläufig zu einem altbekannten Dilemma: Die Frage, ob der Mensch einer Verbesserung bedarf, erfordert immer eine finale Definition des Wünschenswerten. Die Annahme einer Verbesserungsbedürftigkeit setzt eine Vorstellung eines bestimmten imaginierten Zustandes voraus. Das „Gute“ wird dadurch zu einem objektiven Wert und schränkt damit moralische Entwicklung und Reflexion von vornherein ein. Längerfristig würde eine solche „Verbesserungs- und Optimierungsentwicklung“ jede Freiheit in Zwang umwandeln, denn das, was als wünschenswert gilt, ist ja bereits festgelegt. Das kennen wir von totalitären Strukturen religiöser oder politischer Natur.
Schlimmer noch: jeder Wandel, jede Entwicklung hätten ihre Ursache nicht in der Erfahrung und Einsicht des Einzelnen, sondern in einem abstrakten und vorformulierten „Soll“. Das Gedeihen einer Kultur läge nicht mehr in der kreativen und natürlichen Entwicklung ihrer Individuen, sondern es wäre eingesperrt in die Vorstellung, wie das gute Leben zu sein hat. Diese Idee ist nicht neu, aber sie existiert in der Literatur und Geschichte nur als Dystopie. Warum wohl? 1975 sang Pink Floyd bereits:
Welcome my son
Welcome to the machine
What did you dream?
It’s alright we told you what to dream
Technologie als Erlösungsoption
Schon heute überragt Technik den Menschen um ein erschreckendes Maß. Monströs wirkt sie manchmal, bedrohlich, zerstörerisch- martialisch. Das Maschinenhaft- Technische scheint dem Menschen oft diametral gegenüber zu stehen. Natürlich dient uns die Technik, doch wir wissen um den Preis dessen: und wir versuchen, mit technischen Mitteln die Probleme zu lösen, die die Technik selbst verursacht hat. Da ist sie auch wieder, die Verbesserungssehnsucht.
Man könnte natürlich meinen, wenn Maschinen für Menschen denken, bleiben die menschlichen Fehler aus – das ist auch der Duktus der Transhumanisten. Die heikle Frage, die sich daraus ergibt: ist davon auszugehen, dass Technik mit solchen Befugnissen auch eine menschenförderliche Umgebung erschafft? Oder wird der Mensch dort nicht eher zum Störfaktor?
Wenn wir uns die Produkte technologischer Entwicklung der letzten hundert Jahre anschauen und sie noch um die cineastischen Fantasien ergänzen, dann finden wir darin in erster Linie die männliche Affinität zum Martialischen: gewaltig, überpotent und immer dem Menschen überlegen. Das Design der fortschreitenden Technologie könnte die Fortführung antiker Mythologie verkörpern: Die Titanen und Götter, Symbole der kosmischen Urkräfte selbst, müssen überwunden werden. Der Mensch ist nun der Schmied der ultimativen Waffe gegen die eigene Vergänglichkeit, er hat sich dem Aberglauben entwunden, die Welt entmystifiziert, er hat den Kosmos dank seiner Zahlen und Rechnungen durchschritten. Er hat die Suche nach dem transzendenten Sinn seiner Existenz qua Einsicht aufgegeben und die Suche nach dem heiligen Gral digitalisiert. Dank der überlegenen Rechenleistung seiner „Waffen“ kann er sich selbst getrost durch eine verbesserte, transhumanistische Variante ersetzen. Das wäre die Erlösung der eigenen Kleinheit, Bedingtheit und Sterblichkeit auf technologischem Wege.
Transhumanismus: der Kampf gegen die Vergänglichkeit
Jahrhunderte lang war es der Glaube und die Religion, die uns Menschen den Halt gab, den wir als sterbliche Wesen brauchen. Diese Rolle hat in der westlichen Welt fast unbemerkt die Wissenschaft übernommen: Sie erklärt uns nämlich nicht nur, wo wir herkommen, wie wir konditioniert und konstituiert sind, sondern dass jedes individuelle „Trans“ nur das Ergebnis biochemischer Hirnaktivität und damit illusionär ist. Die Frage Kants „Was kann ich hoffen?“ wird damit indirekt zerschmettert. Das Höhere, der Anteil an einer göttlichen Sphäre, ist demnach nur eine Einbildung. Jetzt ist alles möglich, nichts mehr verpflichtet uns zur Demut oder Rechenschaft, der Himmel steht offen- zumindest dem technisch Machbaren.
Unbewusst kämpft der Mensch gegen seine drohende Vergänglichkeit und will ihr etwas entgegen setzten, was ebenso machtvoll ist. Jede Unsterblichkeitsfantasie beruht darauf und im Transhumanismus findet sie ihren technozentrischen Ausdruck.
Natürlich geht es auch beim Transhumanismus um Sinn. Das Internet ist ein Symbol dessen. Es ist nicht nur ein „Net“ im Sinne der Vernetzung der Welt, es ist auch ein Netz, das trägt – es trägt mich virtuell, in all meinen Seins- Fragen, und leider überlagert die elektronische Quelle der Antworten die Innere.
Sinn kann aber nun nichts Trans-personales mehr sein. Es kann zwar sein, das eine Nische für Privat-Spiritualität übrig bleibt, die hat aber nichts mehr in den realen Lebensbezügen mehr zu suchen. Sinn und Unsinn des Lebens ist keine Frage, welcher der Einzelne nunmehr ernsthaft gegenübersteht, da er sie gar nicht mehr beantworten muss – und damit ist der Sinn und schließlich die Existenz des Einzelnen auch nicht mehr von Bedeutung.
Humanismus vor Transhumanismus
Es liegt auf der Hand, dass eine gesunde Gesellschaft nur die Voraussetzung, nicht das Ergebnis jeder geplanter Menschen-Optimierung sein kann.
Kann Gedeihen einem Programm entspringen? Kann wirkliche Menschlichkeit im Sinne einer aufeinander bezogenen, respekt- und liebevollen Gesellschaft ihre Quelle in Algorithmen haben? Ich glaube nicht, dass eine echte Conditio Humana den Leitwert derer bildet, welche diese Algorithmen programmieren. Diese müssen die Werte kennen und vertreten, aus denen diese Conditio gebildet wird. Sie muss dem Leben verpflichtet sein, und nicht versuchen, Leben durch Funktionieren zu ersetzen. Wenn Liebe, verstanden als aktives und verantwortungsvolles Bezogen-Sein der Mitwelt gegenüber, Ausdruck von Lebendigkeit ist, wie soll eine solche Qualität programmiert werden?
Wenn die Würde des Menschen durch seine Freiheit gebildet wird, muss zuerst diese Freiheit gewährleistet werden.
Der Transhumanismus möchte Fehler eliminieren. Er möchte Vollkommenheit in einem Sinn, den es in der Natur, der wir entstammen, nicht gibt. In dieser haben wir ein Recht auf Unvollkommenheit und „Fehler“ als Vorbedingung unserer eigenen Erfahrungsbildung. Wie können sich zentrale Eigenschaften des Seins wie Leidenschaft, Sehnsucht, Spontanität oder Kreativität in gesundem Rahmen entfalten, wenn sie in digitale Parameter eingehegt sind? Darüber muss gesprochen werden: Wieviel „errechnetes“ wollen wir in unseren Gesellschaften? Wieviel „Wahr“ und „Richtig“ im obigen Sinne darf ins Private eindringen? Welche Werte, die auf einem rein skelettiertem wissenschaftlichen Verständnis beruhen, dürfen in unser Rechtsverständnis Eingang finden? Wie muss Leben und Bewusstsein gefasst und verstanden werden, um ein tragfähiges Menschenbild zu etablieren? In welchem Verhältnis steht der einzelne Bürger zum Kollektiv? Welches ist die Quelle intuitiver Sittlichkeit?
Ohne Diskurs zu diesen Fragen darf es keine selbstverständliche Entwicklung und Implementierung transhumanistischer Praxis geben. Echte Lösungen erfordern auch hier eine Lobby-freie und neutrale Forschung; die entsprechenden Wissenschaften müssen von finanziellen Interessen abgekoppelt und mit Geisteswissenschaften gekoppelt sein.
Aber auch hier obliegt die Verantwortung nicht alleine bei den Machtinhabern und Systemarchitekten: die müssen nämlich als Delegationsträger von uns allen verstanden und als solche behandelt werden.