Warum ist es so schwer, den eingeschlagenen Weg zu verlassen?
Warum sind wir im allgemeinen so selbstverständlich davon überzeugt, auf dem “richtigen“ Weg zu sein, auf der richtigen Seite zu stehen? Was außer dem Wunsch nach Zugehörigkeit steuert uns, und wie entsteht daraus Glauben? Warum scheint es nur wenigen zu gelingen, den Mainstream wirklich Infrage zu stellen? Ich möchte in diesem Artikel zwei Mechanismen dieses komplexen psychologischen Phänomens zu beschreiben.
Wir wissen alle, dass unser globales Überleben von der Erhaltung natürlicher Ressourcen abhängig ist. Wir wissen, dass endloses Wachstum nicht möglich ist, auch nicht ökonomisch. Wir wissen, dass das allgemeine Bildungssystem eher ein Ver-bildungssystem ist. Wir wissen, dass die Vorstellung, die wir von „Gott“ haben, eine von vielen ist. Wir wissen, dass gesundheitliche Herausforderungen verschiedene Lösungsansätze erlauben. Zumindest theoretisch wissen wir es.
Doch die Realität der Welt scheint eine andere Grundlage zu haben. Unserer aktuellen Lebenspraxis steht anscheinend immer ein Wissen gegenüber, wie das, was wir tun, eigentlich auch anders, vielleicht sogar besser ginge. Unsere Wissenschaften sind einerseits eine Quelle unleugbarer Fakten, welche aber andererseits immer auch interpretierbar sind. Einstein soll gesagt haben, dass „die Theorie die Beobachtung bestimmt“. Auf der Welt existieren zu jeder Disziplin folgerichtig die unterschiedlichsten „Wahrheiten“: Das ist auf religiösem und auf weltanschaulichem Gebiet genauso wie auf individuellem.
Wahrheitsfindung scheint eher ein psychologisches als ein Tatsachenproblem zu sein. Ansonsten würden wir in einer ein-deutigen Welt leben, in der sich früher oder später immer eine Wahrheit durchsetzen würde.
Was hindert uns also, unser Verhalten und unsere Alltagspraxis nach dem auszurichten, was wirklich wahr im Sinne einer möglichst unbeeinflussten, evidenzbasierten und überprüfbaren Wirklichkeitserfahrung ist?
Menschliche Denkpraxis
Wir glauben zunächst immer erst einmal gemäß unserer Denk- und Glaubensgewohnheit. Unsere Erfahrung erscheint durchgängig und erzeugt dabei eine Stimmigkeit, eine Kohärenz, die wir als Schlüssigkeit unserer Wirklichkeitserfahrung erleben und die sich damit andauernd selbst bestätigt. Diese Glaubensgewohnheit entschlüsselt andauernd die Eindrücke, die aus der Umwelt auf uns treffen und interpretiert sie. Diese Interpretation ist aber eben nicht neutral, sondern sie agiert immer im Interesse der Kohärenz. „Was ich verstehe oder nachvollziehen kann, ist wahr“ könnte ihre Maxime heißen.
Dieser psychologische Mechanismus ist wichtig, um überhaupt eine stabile Persönlichkeit entwickeln zu können, und schließlich basiert jede kulturelle Eigenheit auf der kollektiven Lebenserfahrung ihrer Mitglieder darauf. Es liegt aber auf der Hand, dass er ungeeignet ist, Wahrheiten in größeren Zusammenhängen zu erfassen. Wenn meine Denkgewohnheit die Welt nach einem atheistischen Verständnis erklärt, werde ich kaum Verständnis für die Überzeugung eines Muslim aufbringen; allenfalls eine Toleranz.
Das wird ergänzt durch unsere Neigung, unseren eigenen Wissensstand tendenziell dem anderer Menschen(gruppen) für überlegen zu halten. Der Atheist glaubt sich aufgeklärter als der Muslim, der seinerseits den Atheisten für realitätsfern und blind für geistige Offensichtlichkeiten hält. Und natürlich wählen wir unsere Informationsquellen immer entsprechend der Präferenzen unserer Glaubensmuster.
Wir leben in einer Welt paralleler Wahrheiten. Das ist grundsätzlich nicht verkehrt, solange die oben beschriebenen Mechanismen bewusst bleiben und als Ursache gesunder kultureller Diversität und Ausdruck menschlicher Vielfalt erkannt werden.
Schwierig wird es, wenn bestimmte Glaubensinhalte verabsolutiert werden.
Von „Glauben“ ist zu sprechen, wenn Theorien, Konzepte oder Ideologien nicht durchgängig beweisbar sind oder es zumindest stichhaltige Gegenargumente gibt. Glaube disqualifiziert sich nicht automatisch als antiquiertes Phantasiegebilde: wir müssen glauben, damit wir handlungsfähig sind und damit wir die Grundlage einer Ethik entwickeln können. Glaube ist die Überzeugung an die (aktuelle, ggf. vorübergehende) Richtigkeit des eigenen Verständnisses und seiner handlungsleitenden Dimension.
Regelmäßige Aktualisierungen unserer Glaubens- und Überzeugungs-sets wären also sinnvoll, und zwar bevor unsere möglichen Irrtümer in Form des Eintritts (oder Nicht- Eintritts) drastischer Ereignisse offenbar werden.
Leider führt die Falschinterpretation der Welt aber eben nicht automatisch zur Neuausrichtung oder zum kleinlauten Zugeständnis, daneben gelegen zu haben. Nicht nur Weltuntergangssekten, die seit über einhundert Jahren das Ende prophezeien und das Ausbleiben desselben zu keiner wesentlichen Änderung ihrer Lehren führt, sind davon betroffen. Unsere globale Ökonomie ist es ebenso wie unser Verständnis von Gesundheit, Natur, Geist und Seele und: natürlich jeder Einzelne.
Warum ist das so?
Die Natur des Glaubens
Zunächst ist Glauben im beschriebenen Sinne Heimat. Diese muss vor möglicher Bedrohung geschützt werden, denn: Wenn ich meinen Glauben in einer Sache hinterfragen muss, wie sicher kann ich dann sein, dass nicht mein ganzes Konstrukt, mein „Lebensgebäude“ in Gänze fehlerhaft ist? Die möglichen Konsequenzen eines gescheiterten Lebensentwurfs könnten fatal sein.
Und: Wenn ich mich derart habe täuschen lassen, wie sehr kann ich mich auf mich selbst verlassen? Das ist eine narzisstische Kränkung: Ich war nicht intelligent genug, nicht wach genug, nicht gebildet genug, um die Täuschung als eine Solche und als Irrtum zu erkennen. Die emotionale Integrität wäre gefährdet!
Wir möchten einfach auch glauben können, dass die Welt – unsere Welt – im Großen und Ganzen in Ordnung ist.
All das wirkt natürlich erst einmal vor- und unterbewusst. Im Allgemeinen denke ich mich nicht bis zu diesem Punkt vor. Zuvor setzt auch eine geistige „Immunabwehr“ ein. Diese besteht aus zwei Hauptmechanismen.
Erstens wäre die sogenannte kognitive Dissonanzzu nennen. Der Psychologe Leon Festinger entwickelte diese Theorie in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Er hatte sich undercover bei einer Gruppe von Menschen angeschlossen, die einer selbsternannten Prophetin zufolge das Eintreffen von Außerirdischen in Verbindung mit einer todbringenden Flut erwarteten, und zwar exakt in der Nacht von 21.12.1954. Es war nämlich so, dass das Ausbleiben der Außerirdischen nicht zu einer Auflösung der Gruppe geführt hätte, wie man es hätte erwarten können. Die Glaubensgrundlage wurde beibehalten, neu interpretiert und die Sekte blieb bestehen.
Die Kognition, also die Wahrnehmung der Gruppe, war nach dem Nichteintreten des Erwarteten „dissonant“, sie stimmte nicht mit dem überein, was man für wahr gehalten hatte. Da aber unsere Psyche andauernd darauf bedacht ist, eine „konvergente“ Welt um sich zu haben, also die Welt zu verstehen, wird sie kreativ: sie ist darauf aus, sich scheinbar widersprechende Kognitionen zu vereinen oder aufzulösen. Dazu wird das Thema neu gerahmt, neu ausgelegt oder relativiert. Damit dürfen sich scheinbar widersprechende Kognitionen nebeneinander existieren.
Ein weiterer tiefenpsychologischer Mechanismus nennt sich Reaktanz.
„Reaktanz ist die Motivation zur Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsspielräume“ (1). Ich wehre mich also gegen die empfundene Einengung meiner subjektiven Freiheit, wozu insbesondere die Freiheit meinen Überzeugungshoheiten gehört, egal wie sie geartet sind. Wir sind eben nicht tendenziell offen und bereit, diese Überzeugungen grundlegend Infrage zu stellen. Darin steckt schon eine sehr irrationale Komponente: niemand hat sich das Umfeld der eigenen Sozialisierung frei wählen können, und so entscheidet in hohem Maße dieser spezifisch- biographische Prozess über unsere groben Überzeugungen. Es macht einen Unterschied in der Ausprägung meines Weltverständnisses, ob ich in Indien, in Saudi- Arabien oder in den USA aufgewachsen bin, um ein plakatives Beispiel zu nennen.
Und trotz dieser Offensichtlichkeit wähnen wir uns jeweils grundsätzlich auf der Seite der Wahrheit und der Erkenntnis.
Es verwundert nicht, dass sich in einer globalisierten Welt das Wahrheitsverständnis an der Leitkultur orientiert. Derzeit ist das im Umgang mit Corona zu beobachten: eine wissenschaftsgläubige Kultur erwartet die (Er-) Lösung genau und ausschließlich von dort.
Vertrauen und Glauben
Auf der Grundlage seiner kulturell und individuell geprägten Glaubensgewohnheit vertraut der Mensch zuerst dem Vertrauten. Die Bedeutungsnähe der beiden Begriffe verweist bereits auf diese Dynamik. Vertrauen ist in der westlichen Welt kaum mehr ein Akt der Hingabe an die Wahrhaftigkeit als menschlichen Wert, sondern eine geschäftsmäßige Beziehung. Eine ähnliche Erosion hat der Begriff des Glaubens hinter sich: er soll eine beweisbare Grundlage haben, und genau darin liegt das Problem.
Wir haben verlernt, wirklich zu glauben. Glaube ist eine metaphysische Qualität, sie folgt in zwischenmenschlichen Beziehungen der Ethik der Liebe und in der Lebenspraxis der Intuition. Glaube macht demütig, denn er weiß, dass ich nicht alles wissen kann und dass alles, was geschieht, einer Logik folgt, die ich unmöglich vollständig erfassen kann und deren Produkt ich letzten Endes selbst bin. Da ist die Unkontrollierbarkeit des Lebens selbst, und Glaube ist die Fähigkeit, diesen Umstand zu akzeptieren und dieser Unkontrollierbarkeit keinen Aktionismus entgegen zu setzen, der andere Grundwerte aushebelt.
Echtes Vertrauen aber erwächst aus einem solchen Glauben. Es wäre zur Bestätigung dieser These nützlich, einen gründlichen Blick auf die Geschichte zu werfen. Dort wird nämlich schnell deutlich, dass Aktionismus in der Regel mehr Probleme verursacht als gelöst hat.
Der überzeugte Mensch überhebt zudem seine Moral über die der anderen, er hält die eigene Wahrheit für die einzig heilbringende.
An dieser Stelle beginnt das Leid: Auf der Grundlage dessen fanden Verfolgungen und Genozide statt, der Raubbau der Ressourcen, die Ausgrenzung und die Vereinseitigung des Lebens in totalitären Staats- und Religionsformen.
Allerdings zeigt der Blick auf die Geschichte auch, dass sich noch nie ein einzelnes, zur „Wahrheit“ hochstilisiertes Konzept dauerhaft durchgesetzt hat, egal ob es religiöser, politischer oder technologischer Art war. Immer wird es irgendwann mit der Wahrheit der Zeit konfrontiert.
Der Physiker Hans-Peter Dürr schrieb, er „habe aus dem Studium von 3000 Jahren Wissenschafts- und Kulturgeschichte gelernt, dass zu jeder Zeit die Gefahr besteht, die Wahrheiten, die wir gefunden zu haben glauben, in ihrer Ausdeutung (…) zu überschätzen“ (2).
Irgendwann wird offensichtlich, was die jeweilige „Wahrheit“ meist wirklich war: ein Konstrukt, zusammengestellt aus der Summe unserer individuellen und kulturellen Dispositionen.
Aber auch dann werden wohl aus den Ruinen dieser Konstrukte die nächsten „Wahrheiten“ entstehen.
Quellen:
- Raab, G., Unger, A. & Unger, F. (2010). Marktpsychologie – Grundlagen und Anwendung. Wiesbaden: Gabler Verlag, S. 65
- Dürr, Hans-Peter, Für eine zivile Gesellschaft. Dtv, 2000, S.30