Der Sinn von Leid
Zum Einfühlen in eine neue Dimension des Gewahrseins –
Leid ist offenbar untrennbarer Teil des Daseins. Das nimmt der Mensch nicht immer gerne hin, und so sehen wir eine Welt, in der Leidflucht in der Freizeitindustrie, in der Politik, dem Selbstotimierungsdrang und den Religionen einen prominenten Platz einnimmt.
Dabei wird gerne übersehen, dass die Realität von Leid auch Freude, Dankbarkeit und Wertschätzung im Leben ermöglicht, sogar deren Bedinung ist.
Schauen wir uns das genauer an. Erlebtes Leid hilft uns, ganz präsent zu sein, Werte festzulegen, Mitgefühl zu empfinden, und zwar nicht nur theoretisch, sondern wirklich. Ohne Leid kann es keine Ethik geben, denn das Leid zwingt mich, seine Ursachen zu sehen und dazu eine bestimmte Haltung einzunehmen und Konsequenzen zu ziehen. Leid lässt uns moralisch erwachsen werden. Es hilft darüber hinaus auch, die Vergänglichkeit zu sehen, die allem innewohnt. Nicht meine Erlebnisse sind vergangen, sondern ich vergehe. Nichts war je „ganz“ da, weil alles diese Vergänglichkeit in sich trägt. Alles ist ein laufender Prozess der Wandlung. Nur die gegenwärtige Präsenz meiner Aufmerksamkeit erzeugt meine Welt, den kleinen Ausschnitt dessen, was ich davon wahrnehme.
Was hat das mit Leid zu tun? Das Leid beginnt immer da, wo ich versuche, etwas zu fixieren. Statt anzuerkennen, dass es vorbei ist und damit die Wirklichkeit anzuerkennen, hafte ich an. Ich “klebe” an der Erfahrung: war sie positiv, werte ich mich damit auf, war sie negativ, ist sie Baustoff für meine Geschichte, mein “Drama”. Es braucht aber den Akt, es gehen zu lassen, womit ich mich von der Identifizierung und damit von der Vergangenheit lösen kann. Das Vergangene ist tot, und ich leide, wenn ich es am Leben zu erhalten versuche. Und genau das tun wir andauernd: wir erhalten unser Drama hinter scheinbar gerechtfertigter Empörung über „Ungerechtigkeiten“ am Leben und verhindern damit, unsere eigene Angst und Enttäuschung fühlen zu müssen. Das rebellierende Kind in mir will nicht erwachsen werde.
Und das machen wir schon lange. Leid zeigt uns auf, was wir NICHT wollen. Angst verhindert, dass wir das leben, was wir wollen. Und so haben wir uns Jahrtausende lang von Mächten unterdrücken lassen, in der Hoffnung, die Kirche, der STaat oder der wissenschaftliche Fortschritt würden uns irgendwann befreien. Stattdessen leben wir in einer Welt der Ausbeutung und Gewalt.
Was kann ich tun? Nur aus der Position der Gegenwart heraus kann ich trennen zwischen meinem Schmerz, also Verletzungen dieser Vergangenheit oder meiner Sehnsucht zurück in „heile Welten“ und meinem wirklichen Selbst, dem Menschen, der ich tatsächlich jetzt bin.
Diese „Jetzt- Ort“ ist gar nicht so leicht zu finden; obwohl wir nur jetzt da sind, ist unser Geist und unser Gefühlsleben meist gleichzeitig noch woanders in der Vergangenheit und in der Zukunft. Und die Basis unseres Erlebens sind die Erlebnisse der Vergangenheit, die sich zu Automatismen verselbständigt haben.
Aber dieser Jetzt- Ort ermöglicht eine große Freiheit, wenn ich fragen kann: Wer erlebt das? Wem geschieht das? Und wenn ich genau hinschaue und fühle, stelle ich fest, dass der Erlebende unverletzt ist und immer unverletzt war. Ich habe das Drama- Drumherum selbst inszeniert.
Und da eröffnet sich echte Vernunft: nicht eine Forderung nach etwas, was „sein sollte“ , womit ich der Gegenwart die Freude nehme und meiner inneren Realität eine Absage erteile, sondern die Akzeptanz des Vergangenen und das Anerkennen meiner Freiheit zur inneren Distanz dazu im Jetzt.
Der Leichnam, den ich mit mir herumschleppe
Unsere Persönlichkeit ist die Summe unserer Anlagen einerseits, andererseits die Summe unserer Erfahrungen, also unsere Geschichte. Zu selten sind wir uns dessen gewahr und machen uns damit zum Sklaven unseres vergangenen Ichs. „Ich Jetzt“ komme eben aus dem „Ich gerade eben“, ich bin daraus und aus allen vorangegangenen Momenten in diese Gegenwart geboren worden. Die Vergangenheit verleiht also meinem Jetzt erst Sinn.
Wie wäre es, wenn ich das Gedächtnis verlöre? Was, wenn alles, was mich bisher bestimmt hat, alles, was mich beeinflusst und geformt, mir Identität gegeben hat, von mir nicht erinnert werden könnte? Könnte ich dann überhaupt ein sinnhaftes Jetzt leben?
Das kann natürlich kein erstrebenswertes Ziel sein, aber die Frage zeigt, welche Macht die Vergangenheit hat. Fast unbemerkt formte sie mich. Aber nun existiert sie nicht mehr; sie ist zwar anwesend, aber nur als Abstraktion. In meiner Geschichte fand Angst statt, Zu-kurz-gekommen-sein, Verlust, Enttäuschung, Trauer – und vieles, wenn nicht gar das Meiste davon ist nicht oder nur unvollständig verarbeitet. Es lässt die Gegenwart nicht sie selbst sein. Sie färbt das Jetzt mit all ihren meist unangenehmen Tönungen. Man könnte sagen: nicht ich erlebe die Gegenwart (also das Leben, mein Leben), sondern die Person, die ich einmal war. In Wirklichkeit gibt es diesen Menschen gar nicht mehr. Er ist ein Zerrspiegel, durch den ich die Gegenwart sehe. Ich bewohne einen Leichnam.
Meist bemerke ich gar nicht wie viel Kraft das kostet. Ich verbrauche Unmengen an Energie, um die Person im Jetzt aufrecht zu erhalten, an die ich mich einfach gewöhnt habe. Wie kann ich das beenden?
Ich frage mich: wer oder was reagiert und kommentiert unablässig in mir alles Geschehen der Gegenwart? Ist es mein Jetzt- Gewahrsein, meine volle Aufmerksamkeit ohne Urteil? Reines Bewusstsein?
Meist eher nicht. Ich muss mich dazu immer wieder neu entscheiden. Ich muss mir darüber im Klaren sein, dass ich mich selbst dauernd erneuern muss, will ich den Leichnam nicht konservieren.
Diese Erneuerung kann kein Ziel für einen zukünftigen Zeitpunkt sein. Sie kann nur Jetzt stattfinden. Sie ist ein fortgesetztes Erwachen in die Gegenwart und damit in die Wirklichkeit hinein.
In der Praxis bedeutet das, sich fortwährend seines körperlichen, geistigen und seelischen Befindens bewusst zu werden, seinem ganzen Sein in der Welt.
Ich selbst bin das Auge, das Ohr, das ganze Erkennen der Welt. Schönheit entsteht erst durch diese meine Wahrnehmung. Angst erzeugt eine Welt der Unfreiheit und des Leids. Das ist die Wahrheit, die sich ihrer selbst bewusst wird. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ sagte Jesus Christus.
Und dann wird mir klar, dass alles Leiden ein Ausdruck der Unbewusstheit ist, ein Ausdruck nicht formulierter Fragen an das Leben, ein Ausdruck nicht gelebten Lebensdrangs.
Im Leid werden die Grundsatzfragen gestellt, die nicht mehr leisten können, was sie leisten sollen, nämlich Sinn und Richtung geben. Leid verzerrt sie, und sie werden in Folge falsch gestellt. Merkmal falsch gestellter Fragen ist immer, dass es keine oder keine klare, allgemeingültige Antwort gibt.
Nur wenn ich zu jedem Zeitpunkt – also jedem Jetzt – völlig über meine Bedürfnislage klar bin, wenn ich weiß, wer ich gerade bin, kann das Leid aufhören. Es findet in mir kein Futter mehr. Ich bin nämlich kein Opfer mehr. Die Vergangenheit ist nicht mehr die Vorgeschichte zu meinem Drama. Sie definiert nicht mehr meine Persönlichkeit und formuliert nicht meine Reaktion. Meine Vergangenheit formt nicht mehr vollständig meine Gegenwart, sondern ist nur das „Kontrastmittel“, der Hintergrund meiner jetzigen Erfahrung, die Quelle meiner Weisheit und die Quelle von Mitgefühl.