Entwicklungsende?
Wie könnte eine zukunftsfähige Ethik aussehen?
Der Mensch hat seine Entwicklung selbst in die Hand genommen, er ist nicht mehr völlig der Evolution ausgeliefert. Diese Freiheit hat offensichtlich keine andere Spezies auf diesem Planeten. Nur muss sie auch erkannt werden, sonst wird unsere Entwicklungden Automatismen folgen, die wir gerade selbst konstruieren.
Nach 4 Mrd Jahren Erd-Entwicklung schauen wir auf eine prachtvolle Bilanz: Biodiversität bis zum Abwinken, globale Mobilität und ein reflektiertes Ich- Bewusstsein bei mindestens einer Spezies.
Der Weg hierher war nicht leicht, die ganze selektive Auswahl, Fressfeinde, Meteoriteneinschläge- der Entwicklungsstress scheint nun aber nachgelassen zu haben. Moment- diesmal bedroht ein Virus die Krone der Evolution- mal wieder. Diesmal sind wir besser gewappnet als in der Vergangenheit, wir brauchen uns nicht mehr alleine auf unser Immunsystem zu verlassen.
Das Virus wird unsere Entwicklung also nicht aufhalten. Wohin möchten wir uns denn eigentlich entwickeln?
Bisher hatte uns die Evolution auch nicht gefragt. Wir sind eben so geworden, einfach immer optimiert.
Jetzt scheint das doch anders: können wir doch eingreifen in die Codierungen des Lebens, sie mittels Technologie erweitern, wir können sogar künstliche Intelligenz erschaffen, die unsere eigene übersteigt. Ob wir Bewusstsein erschaffen können? Naja, dazu müssten wir erst einmal wissen, was das wirklich ist…
Wir haben also Entwicklung seit neustem tatsächlich zumindest partiell selbst in der Hand. Da sollte man schon wissen, wo es hingehen soll! Ob wir Herz und Verstand unter einen Hut bekommen?
Die vergangenen Jahrtausende haben die Menschen verschiedenste Formen funktionierender und weniger funktionierender Gesellschaften ausprobiert. Dabei haben wir immer die Quelle legitimer Moral gesucht, aus der wir eine Ethik ableiten können, um uns nicht weiter wie die Raubtiere benehmen zu müssen. Wir haben Gott konstruiert und wieder demontiert. Wir sind an Ideologien gescheitert und gerade sollen Technologien die Probleme lösen, die sie verursacht haben.
Ist es uns Menschen gelungen, aus diesen Erfahrungen wirklich eine intuitive Sittlichkeit zu generieren, die unser Denken und Handeln leitet?
Haben wir es bisher geschafft, eine wirklich humane Gesellschaft zu verwirklichen? Oder sind die Probleme dieser Welt nur Randerscheinungen, die sich sicher dank unserer humanistischen Ethik in Kürze auflösen werden?
Was ist MENSCH?
Es scheint so, dass wir bisher noch nicht einmal ein klares Bild von dem haben, was der Mensch überhaupt ist. Wenn er nicht die Krone der Schöpfung ist, die Kraft des Höchsten hier zu seinem Lobpreis installiert wurde, was dann? Wenn der Mensch nur ein Produkt chemischer entropischer Prozesse ist; wozu solche Fragen stellen?
Wozu Nächstenliebe und Nachhaltigkeit? In einer polarisierten entweder- oder- Welt, die alle Lebenswirklichkeit nur technologisch verkürzt sehen kann, muss Optimierung das neue „von oben“ sein, das einst Gott war. Das neue „von oben“ „managt“ den Menschen. Die Anerkennung des „Anderen“ gilt nur für den, der mitspielt, der die Regeln befolgt, die das optimierende und unantastbare „von oben“ festlegt. Der ökonomisch verkürzte Rationalismus lässt eben keinen Platz für individuelle Abweichung. Der Fortschritt ist eben auch erbarmungslos- das galt bisher für alle Spezies, die sich nicht schnell genug anzupassen vermochten.
Die Priester dieser neuen Autorität sind weitestgehend immun. Dass wir Teil einer Welt sind, die nicht völlig erklärbar ist, deren Genese sich unserem Zugriff entzieht, dass die Mittel objektivierender Wissenschaft immer eine Selbstblindheit besitzen, da sie nie mehr erklären können, als Instrumente und Sprache festlegen können- das kann in einem Weltbild keinen Platz finden, welches jede Tiefendimension leugnet und das jedes Symptom für kontrollierbar und bekämpfbar hält.
Der Kampf war eben schon immer das Mittel der Wahl. Im Kampf definiert sich der Mensch durch den sozial Anderen: das Andere, das nicht Integrierbare muss bekämpft werden. Es bedroht mich in meiner Freiheit.
Und was ist Freiheit?
Und jetzt wird’s spannend. Wenn ich Freiheit über die äußere Form definiere, werde ich immer wieder kämpfen müssen. Ich halte Freiheit dann für etwas, was ich verlieren kann und erkenne nicht, dass ich mit jeder Definition meiner Freiheit Bedingungen schaffe, die eigentlich Begrenzungen sind und der Freiheit wesensmäßig entgegengesetzt. Es ist wie bei der Reihenhaussiedlung, wo die Grundstückgrenze zum Nachbarn hin klar und möglichst geschlossen „verteidigt“ wird. Das Ergebnis hat mit Freiheit und Individualität nichts mehr zu tun.
„Meine Freiheit endet dort, wo die des Anderen beginnt“ ist ein beliebter Spruch, der so verbreitet wie halbwahr ist. Wieder ist ein gewalttätiges Element enthalten, denn meine Freiheit wird als etwas gesehen, was sich andauernd ausbreiten will, welches notwendigerweise immer auf Kosten meiner Umwelt existiert. Es ist eine auf das Handeln beschränkte Freiheit, die immer an den eigenen Einfluss gebunden ist. Der Fabrikarbeiter in Bangladesch arbeitet doch genau für diese meine Freiheit- und ich ermögliche ihm die Seine, oder? Der Zynismus ist leider nicht immer offensichtlich.
- Wir glauben, Intoleranz und Dogmatismus längst gegen freiheitlichen Liberalismus und Pluralismus ausgetauscht zu haben. Wir haben uns eben entwickelt! Wir sind tolerant und offen gegenüber jeder Art seltsamster Abweichung und feiern das mit Regenbogenfarben.
- Wir haben das Patriarchat überwunden und stellen die Geschlechter rechtlich gleich- und lösen sie bei der Gelegenheit gleich aus jedem natürlichen Bezug heraus.
- Wir haben jede Art von Patriotismus überwunden – und bekämpfen jede Art von Nationalgefühl im Ansatz.
- Wir haben jede Art von Fremdenhass hinter uns gelassen- und haben keine Schwierigkeiten damit, nationale Grenzen zu Linien auf Landkarten zu reduzieren.
Und auch politisch sind wir auch frei wie noch nie: die Volksvertreter in den Plenarsälen der Parlamente repräsentieren die intellektuelle und moralische Höhe unseres Menschengeschlechts; sie sind würdige und integre Träger unseres Vertrauens. Oder nicht? Sind sie denn alternativlos?
Die Welt in der Welt
Es ist eigentlich offensichtlich: wir haben eine scheinbar objektive Welt in die Wirklichkeit hinein-konstruiert. Wir haben dabei übersehen, dass wir selbst Teil eines unendlich fein verästelten Netzwerkes sind, welches unsere Ökosphäre bildet. Immer unübersehbar werden die damit verbundenen Schwierigkeiten: unsere Rasse verursacht desaströse ökologische Probleme und sie kann weder für Frieden, noch für eine stabile Versorgung ihrer Bewohner garantieren.
Seltsamerweise führt diese Tatsache, dieser offensichtliche Widerspruch, nicht zu einem kleinlauten Eingeständnis, nicht weiter zu wissen. Sie führt noch nicht einmal in spürbarem Ausmaß zu kritischer Reflektion, zu distanzierter Selbstbeobachtung.
Schlimmer noch: wer sich kritisch äußert, muss mit härtestem Gegenwind rechnen. Wir haben keine Kultur des wertschätzenden Miteinanders, der Achtung und des Respekts vor der anderen Meinung, kurz: des echten Dialogs.
Im Gegenteil. Wir haben eine Kultur, die sich gerade aufspaltet in ein offizielles „Richtig und Falsch“. Angehörige der Minderheit, die nicht dem offiziellen „Richtig“ folgt, erfahren öffentliche Ächtung, Verhöhnung, Diskreditierung, Zensur und mehr und mehr Ausschluss vom öffentlichen Leben. Es gibt einen neuen Klassenfeind, der die Entwicklung einer gesunden Menschenrasse gefährdet. Das hat man sich „bewiesen“. Ächtung ist kein Relikt des Mittelalters oder gesellschaftlicher Inseln wie z.B. Sekten. Sie hat nur das Gesicht gewandelt.
Haben wir das nicht überwunden? Kennen wir nicht die Folgen einer „EINE-LÖSUNGS- Philosophie“? Warum sind wir nicht skeptisch, wenn diese Lösung nicht von der Basis kommt, sondern von Oben verordnet wird? Fühlen wir uns wirklich gut aufgehoben mit unserer Überzeugung?
Ich meine, diese Frage kann sich doch jeder einmal stellen. Immerhin glaubt anscheinend auch jeder, „es verstanden“ zu haben.
Wann in der Geschichte war Wahrheit je das Ergebnis eines propagierten Heilkonzeptes?
Wer hat denn vermutlich die fragwürdige Überzeugung? Doch immer derjenige, der verabsolutiert, der sich eben nicht vorstellen kann, dass es auch anders sein könnte.
An dieser Stelle komme ich zur Ausgangsfrage zurück: ist die gegenwärtige, globale Situation eine Repräsentation der Entwicklung der reflektiertesten Rasse dieses Planeten?
Ist die Welt so wie ist, genau die geronnene Wirklichkeit unserer Natur?
Wir können quantenphysische Prozesse beschreiben, das All bereisen, Atomkerne spalten – während es uns nicht gelingt, dem Anderen in Wort und Tat die gleiche Hoheit und Freiheit zuzugestehen wie mir selbst? Haben wir Qualitäten wie Respekt, Liebe und Mitgefühl für unser privates Umfeld reserviert, in welchem alle unsere Meinung teilen und wir uns fleißig gegenseitig bestätigen können?
Ich glaube nicht, dass wir einfach neue Konzepte, neue Politik -darsteller, eine Gemeinwohl -ökonomie, grünere Technologie oder einen regulierten Globalmarkt brauchen. Nichts davon wird einer nachhaltigen Entwicklung des Menschen dienen.
All das, was heute unsere Lebenswirklichkeit und unseren Umgang mit mehr oder weniger bedrohlichen Problemen bildet, sind Symptome einer vorherrschenden Bewusstseinsverfassung. Die Welt da draussen ist das Gegenbild der Welt unserer inneren Kollektiv-verfassung.
Impulse für eine zukunftsfähige Ethik
Eine Ethik echter Fürsorge, die lokal bezogen ist, die den Menschen nicht als Gast auf diesem Planeten betrachtet, die Freiheit als Eigenschaft und nicht als Privileg betrachtet, eine Ethik, die sich für das Andere zu öffnen bereit ist und durch eine „weiche Grenzziehung“ Identität INNEN wahren kann und AUSSEN zu interagieren bereit ist, eine Ethik, die nicht erlaubt, dass Bedürfnisbefriedigung über das Existenzielle hinaus die Umwelt auch nur im Ansatz zerstörerisch affektiert, weil sie weiß, dass Umwelt immer Mitwelt ist.
Diese Ethik kennt keine Gesellschaftsarchitektur nach Kriterien der Profitoptimierung, der Kontrolle oder der Datenerhebung und –Nutzung. Sie weiß um die Fehlbarkeit und den temporären Charakter ihrer Prognosen und Maßnahmen. Sie dringt dabei nicht ins Private vor, denn das Regulativ ist der wirklich mündige Mensch selbst.
Sie hat es nicht nötig, zu bewerben oder Druck auszuüben, weil sie selbst der betroffenen Basis entstammt. Damit steht ihre Glaubwürdigkeit außer Frage. Eine solche Ethik bringt unweigerlich eine psychische, mentale, intellektuelle und spirituelle Autarkie mit sich, die Freiheit nicht zur regulierbaren Größe reduziert. Fairness und Gewaltlosigkeit sind dann keine normativen Forderungen mehr sondern implizite Eigenschaften der Gesellschaft.
In einer solchen Gesellschaft ist das Jesuswort „wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“ nicht nur eine Erinnerung an die eigene Fehlbarkeit, sondern auch der Hinweis, dass Kritik nur dann angebracht ist, wenn sie aus echtem Interesse geschieht und nicht, um den anderen zur Sicherung der eigenen Position abzuwerten.
Eine Bewusstseinsverfassung, die solch eine Ethik zum Ergebnis hätte, kann und darf keine Utopie sein. „Tat vam asi“: „das bist auch du!“ wäre die grundlegende Prämisse, die anerkennt, dass wir selbst das Ergebnis eines intelligenten Entwicklungsprozesses sind, der sich seiner selbst bewusst wird.
Ob und wie sich dieser Prozess fortsetzt, liegt in großem Maße bei uns selbst. Wir entscheiden immer. Unsere Haltung zum Leben und die Konsequenzen dieser Haltung sind Ausdruck unserer Entscheidung. Darin liegt die Würde und die Freiheit unserer Spezies. Wir können immer entscheiden. Das Prinzip, das wir „Leben“ nennen, hat uns hierher gebracht. Das Prinzip wird immer neue Formen und neues Bewusstsein hervorbringen. Manche davon werden sich vielleicht auch wieder in Weltkriegen zerfleischen oder die Ökosysteme ruinieren; das wird aber nur vorübergehend sein.
Ich glaube, dass die Form der Intelligenz, die uns hervorgebracht hat und uns so unähnlich ist, das Lebensförderliche bevorzugt, es quasi begünstigt. Jede dem Wachstum entgegengesetzte Form hingegen wird sich nicht dauerhaft halten können. Wir sind allerdings mehr als lediglich Zeugen dieses Geschehens. Wir sind Akteure.
Damit kommen wir zur vollen Verantwortung für unsere Entwicklung.