Zeit – Gefängnis, Illusion oder ewige Wirklichkeit?
Wie sollen wir die Zeit greifen? Wie beschreiben wir ein Phänomen, das Zustände miteinander verbindet, die gar nicht existieren, nämlich Zukunft und Vergangenheit? Und haben wir denn nicht schon mit Einsteins Relativitätstheorie ausreichend Erklärungen dafür gefunden? Erklärungen haben es bisher nicht geschafft, Zeit als erfahrbares Phänomen lebensnah zu beschreiben. Versuchen wir es also aus einer anderen Richtung!
Die Zeit als Erfahrungsmedium
In vergangenen Epochen wurde die Zeit als gottgegeben an- und hingenommen. Das moderne Phänomen der Optimierung der (Zeit-) Effizienz ist dem Aufkommen der Leistungsgesellschaft geschuldet, welche in dieser Form mit der Industrialisierung begann. Nicht der Mensch als Taktgeber bedingt durch seine Physis war mehr die zentrale Achse, sondern dass, was „möglich“ war. Realisierbarkeit war das Diktat, dem sich der Mensch nun als „Homo Faber“ anzupassen hatte – und sie ist es noch heute.
Gleichzeitig erfuhr dieser Prozess eine Beschleunigung durch Wettbewerb und Konkurrenz. Damit war die Zeit eine Dimension geworden, die ihrerseits selbst zu optimieren war: der Einzelne war nicht länger getragen vom immer gleichen Rhythmus der Jahreszeiten und ihrer Rituale und die daran gekoppelte Arbeit. Die Zeit erfuhr eine Verdichtung. Man konnte Zeit schließlich „gewinnen“ oder „verlieren“ und neue Eigenschaften wie Schnelligkeit und Effizienz gewannen an Bedeutung und Eingang in die allgemeine Moralbildung: Fleiß alleine genügte als Tugend nur noch in Verbindung mit Geschwindigkeit. Die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, einst lokal gewährleistet, wurde nun abhängig von einer schnellen Überbrückung großer Entfernungen. Alle involvierten Elemente standen unter Leistungsdruck und damit einer Entfremdung ihrer tatsächlichen Natur gegenüber. Die Zeit trägt nun nicht mehr durch das Leben, sie treibt einen hindurch. Das Ende, und damit auch das Endliche, wurde zu etwas Bedrohlichem, Zeit zum Fluch.
Bedroht von Vergänglichkeit
Hatte man viele Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, genug Zeit, Bauwerke von kollektivem Interesse zu erstellen, deren Verwirklichung zeitlich mehrere Generationen in Anspruch nahm, war nun reine Zweckdienlichkeit gefragt. Die Architektur ist heute nicht mehr für die Ewigkeit, sie repräsentiert keinen klaren Zeitgeist mehr, sie übertrumpft nur noch. Überhaupt scheint es keine klare Identifikation mit der gegenwärtigen Epoche mehr zu geben. Das hat sicher viele Gründe; vermutlich ist einer der Wichtigsten der, dass das “Wir” die alten, lokalen, regionalen oder nationalen Grenzen abgelegt hat und in virtuelle Welten umgezogen ist. Das beschleunigt natürlich wieder. Die frühere Ästhetik, gedacht als Ausdruck eines gewissen kulturellen Selbstverständnisses, erzeugt vom jeweiligen Kollektiv, ist relativiert, ist bedroht vom “besseren Anderen” auf der anderen Seite des Globus, ist nicht mehr Teil einer stabilen Zeit, eines unverrückbaren “Jetzt”, auf das ein Morgen bauen kann.
Mehr noch: das Morgen ist eine Bedrohung für das Jetzt geworden: morgen könnte ich schon “von gestern” sein. Damit erstirbt auch ein großer Teil der Ästhetik, die offenbar an eine bestimmte Auffassung von Zeit gekoppelt ist. Die Obsoleszenz ist nun mit eingebaut: die Identifikation mit der Gegenwart und ihren Symbolen und Wahrzeichen ist nun ein Zeichen von „Gestrigkeit“. Damit haben wir, als Bewusstseinsinhaber und – Former, die Zeit in einer Weise programmiert, welche uns eher zermalmt als Raum schafft und trägt.
Die Zeit ist nicht länger unser Begleiter und Freund, sondern ein Feind. Wir setzten uns dem zur Wehr, indem wir Zeit zur Ware machen, die man sich einkaufen und von deren bedrohlichem Griff man sich freikaufen kann. Der moderne Mensch hat sie als etwas aufgeladen, wovon es scheinbar nicht genug gibt. „Zeit ist Geld“, und da wir den Überfluss der realen Welt in ein Mangelsystem gezwungen haben, wofür das Geld symbolhaft steht, leiden wir einen Mangel an Zeit. Dass es sich bei Zeit um eine endlose “Ressource” handelt, um in der Begrifflichkeit des (Bezugs-) Systems zu bleiben, wird dabei übersehen oder ignoriert.
Von der ewigen Ressource zur Mangelware
Das hat zum Verlust der Fähigkeit geführt, uns selbst und unser Leben mit der Zeit insofern zu synchronisieren, dass wir die Fülle der Welt, die in der Zeit enthalten ist, und auch unsere eigene Fülle spüren: selten genügen wir unseren eigenen Ansprüchen. Dazu kommt oft das latente Gefühl, etwas Wesentliches zu verpassen. Die Zeit genügt scheinbar nicht, sie steht sozusagen in negativer Relation zum Möglichen. Daher sprechen wir kaum davon, die Zeit zu leben, sondern vielmehr davon, sie zu „nutzen“. „ungenutzte“ Zeit gilt es zu vermeiden, weil dies mit ungenutztem Leben, welches ein dauernd schwindendes Kapital darstellt, gleichbedeutend wäre.
Kulturen wie die der Maya schrieben der Zeit qualitative Eigenschaften zu, die in einem festen Rhythmus das Leben der Menschen maßgeblich mitbestimmten: wie ein günstiger oder ungünstiger Wind, der die Reisemöglichkeiten eines Seglers bestimmt, entschied diese „Zeitqualität“ über den Erfolg und die Sinnhaftigkeit menschlicher Aktivität. Sie hat ferner Einfluss auf das Befinden des Einzelnen, der eingebettet ist in die alles tragende Zeit. Sie bringt immer wieder aufs neue Chancen und Möglichkeiten. Es ist daher für den Erkennenden nicht nötig, gegen „den Wind zu kreuzen“ und sich und Material übermäßig zu strapazieren.
Synchron mit der Zeit
Für eine solche Auffassung der Zeit wäre es nötig, den symbolischen Thron der universellen Allmachtstellung im Kosmos, welche innezuhaben der Mensch gerne glaubt, aufzugeben. Er müsste wieder lernen, sich einem größeren Geschehen hinzugeben, ohne es völlig verstehen zu wollen.
Die Griechen kannten den „Kairos“, das Wissen um den richtigen Zeitpunkt. Das wirft ein neues Licht auf die Zeit: die Zeit als „Punkt“, als Ort. Wie auf einer DVD, die man in der Hand hält, jeder Moment des darauf gespeicherten Films ein „Ort“ ist. Damit war die Zeit schon „mehr“ als sie es in unserer heutigen Begrifflichkeit ist. Die Abhängigkeit von multiplen Faktoren, die letztlich selbst zur Ganzheit der Zeit beitrugen, war anzuerkennen. Als Mensch war (oder ist) man diesen Faktoren ausgesetzt; man ist nicht Herrscher oder gar „Eigentümer“ der Zeit. Zwar bestimmt auch hier die Zeit den Menschen, aber nicht als drängendes Handlungsdiktat, sondern als fördernde und tragende Kraft, welche uns nicht lediglich zu geschichtlichen Wesen macht, sondern uns vielmehr in die Geschichte lebendig integriert.
Bemerkenswerter Weise erlebt der Mensch sein größtes Glück in zeitlosen Zuständen, nämlich im „Flow“ und in der Ektase. Genau dort, wo er ganz Selbst ist, in völliger Beziehung zum Jetzt, zur Gegenwart, die sich dadurch auszeichnet, dass die Grenze zwischen ICH und dem, was ich tue, annähernd aufgelöst ist und beides ineinander fällt. Sein in der Zeit ist dann vollständiges Sein.
Die Antizipation der Zukunft und die Beschäftigung mit der Vergangenheit spielen dann keine Rolle. Ein Zustand der integrativen Vollständigkeit stellt sich ein, indem Tätigkeit geschieht und ich selbst das Geschehen bin. Zeit umschließt dieses Sein. Sie hört auf, quantitativ von Bedeutung zu sein.
So betrachtet, hat das moderne Menschenbild keine Annäherung an zeitliche Wirklichkeit gebracht, sondern dieser vielmehr ein Korsett verpasst.
Wie demonstriere ich als moderner Mensch also meine Identität, die sich stark gemacht hat gegen die alles pulverisierende Zeit? Ich “entschleunige”, sei es beim “slow- food” oder beim “Achtsamkeitstraining”. Der ZEN- Garten ist vom Architekten als fester Bestandteil meines neuen Homes geplant. Morgens wird meditiert und einmal im Jahr ein Schweige- Retreat im Buddhistischen Zentrum gebucht. Was dabei deutlich wird, ist nur der darin innewohnende Zynismus: ich bin gefangen im double bind, lebe zwei Realitäten, die unausweichliche Wirklichkeit treibt mich immer weiter zu neuen Aktualisierungen, deren Ergebnis diese Maßnahmen selbst darstellen. Nicht mein Bewusstsein wird dabei (zumindest meistens nicht) geschärft und erweitert, sondern mein Lifestyle, der in seiner Grundbeschaffenheit ein Kampf gegen die Zeit ist. Ihr erfahrener Mangel wurde dabei von mir selbst erschaffen.
Wieder bin ich es als Bewusstseinsträger, der die Zeit zu dem macht, was sie ist. Wie Alice im Wunderland, die aus der Zauberflasche trinkt, wird Zeit zu dem, was wir befürchten, dass sie bewirkt.
Was, wenn ich Zeit nicht mehr linear, also als Pfad oder Weg erleben würde, sondern vielmehr als eine Umgebung, in deren Mittelpunkt ich bin? Wie eine Kugel, die in einer Schüssel zentriert ruht, ruhe ich in der Mitte des Geschehens: ich muss nirgendwo hin, ich bin immer schon dort. Alles Geschehen bildet sich um mich herum von alleine.Von hier aus – einem echten HIER – kann ich sinnvoll handeln, weil ich die Gegenwart nicht an Zuständen bemesse, die es entweder nicht mehr gibt oder die es noch nicht gibt.
Zeit als kontinuierliches Sterben
Vergänglichkeit erschüttert uns. In Deutschland sind wir besonders allergisch dagegen: Nur noch selten sieht man dort noch eine Ruine. Wenn man in YouTube “Lost Places” eingibt, kann man in diesen Schrecken, den die Vergänglichkeit verkörpert, punktuell erfühlen. Den Schrecken der Vergänglichkeit haben wir allerdings auch selbst zu einem solchen gemacht: wir haben nicht integriert, dass alles, was wir erschaffen, schon das eigene Ende in sich trägt. Unser Verhältnis zum Tod ist ein Monument dessen; ist es doch ein Verhältnis, was voller Tabus ist. Wir möchten uns gerne in Münchhausen- Manier selbst überholen, durch Geschwindigkeit der Vergänglichkeit ein Schnäppchen schlagen.
All das ist nur mit einem ungenügenden Zeitverständnis möglich. Gelänge es uns wirklich zu realisieren, dass alles nur in der Gegenwart erlebt werden kann, dass nur Gegenwart real ist und mein Sein in der Zeit nur ein Sein in der Gegenwart ist und dass die Gegenwart selbst ein Produkt des Sterbens, nämlich der Vergänglichkeit des vorhergegangenen Moments ist, könnten wir uns vielleicht entspannen und wirklich nachhaltig werden. Der Moment ist zwar vergangen, aber nicht wirklich „gestorben“; ansonsten würden wir in einem fortlaufenden Zustand ständiger Amnesie dahinleben. Die Vergangenheit ist „lebendig anwesend“**.
Identität und Zeit
Dazu bedarf es eines neuen und differenzierteren Zeitverständnisses: Zeit ist der Vorgang der Erinnerungserzeugung. Zukunft hat keine eigene, sondern nur eine zugeschriebene Existenz. Sie ist demnach ohne eigene Substanz und besitzt keine Realität in diesem Sinne. Sie wird als etwas in Erscheinung treten, was nur bedingt ersichtlich ist. Sobald Zukunft eintritt, hört sie auf, Zukunft zu sein, d.h., sobald der abstrakte Begriff der Zukunft mit seinen angenommenen Inhalten Wirklichkeit wird, verliert er seinen Status als Zukunft. Mit der Vergangenheit ist es gleichermaßen: sie existiert nicht im Sinne einer Realität, in welcher gehandelt werden kann. In der Vergangenheit ist lediglich Erinnerung konserviert, Mögliches zu Konkretem geronnen. Auch hier ist der Zugriff nur in einem abstrakten Akt möglich. Von dort her erschaffen wir allerdings unsere Identität. Der Rückgriff auf das Geronnene, das Biographische wirkt “von hinten” in die Gegenwart. Die Vergangenheit ist also nie wirklich vergangen, sondern ist in der Gegenwart anwesend*. Diese Gegenwart ist der fließende Wechsel von Potentiellem (zukünftigem) zum Fixierten (Vergangenheit), was sich insbesondere dadurch auszeichnet, ein dynamischer Prozess zu sein, dem das Ich eher beobachtend als handelnd eingebunden ist. Unser Handeln in der Gegenwart (also unser Handeln in der Zeit) ist kein freies Handeln im reinen Sinne, sondern ein Reagieren, ein Austarieren, ein Folgen aller Impulse, die aus unbekannten Tiefen aufsteigen und aus der unendlichen Summe aller Faktoren, die diese Gegenwart bilden, erzeugt wurden/werden.
Damit ist Zeit nicht das eigentliche Geschehen. Zeit scheint nicht einmal der Hintergrund zu sein, auf welchem Geschehen stattfindet – das ist nur vom Raum zu sagen. Dennoch machen wir aus Zeit sehr gerne etwas strukturelles, etwas, mit dem man “arbeiten“ kann. “Zeit ist ein Medium der Handlungskoordination” meint der Soziologe Hermann Lübbe. Koordination ist allerdings ein mentaler Vorgang. Zeit ist in diesem ein mentales Werkzeug, ein Display. Aus diesem Grunde auch vermag Zeit subjektive Geschwindigkeiten zu besitzen und unterschiedliche Empfindungsqualitäten. Diese Eigenschaften nimmt Zeit aber erst durch diese mentalen Verarbeitungsprozesse an, denn sie ist an das erlebende und wahrnehmende Subjekt gebunden.
Erst in der höheren Zeit finden wir möglicherweise Eigenschaften, die über mentale Organisation hinausgehen. Dort sind wir geborgen in der Zeit, welche alles Potential in sich trägt und durch neue Verzweigungen immer neue Möglichkeiten der “Handlungskoordination” erschafft. Der Raum des Möglichen wächst und erzeugt dabei immer neue Bedingungen, Freiheiten, Dynamiken usw., die uns bedingen. Immer mehr fließt in das Jetzt ein, besser gesagt, das Jetzt befindet sich in einem immer weitverzweigtem Raum der Möglichkeiten, einem selbstorganisierenden Netzwerk einer grenzenlosen Gegenwart. Diese angenommene höhere Zeit kann also als Informationsträger imaginiert werden, ähnlich einem Speicher.
Während fast alle uns bekannten Wesen in dieser Zeit vollständig gegenwärtig sind, unterscheidet sich der Mensch davon, als dass er dieses Fließen wahrnimmt, dass er erinnern und antizipieren kann. Die Zeit ist beim Tier vertikal- gegenwärtig, beim Menschen horizontal- kausal angelegt. Diese mensch-spezifische Wahrnehmung suggeriert eine Freiheit, die er in Wirklichkeit nicht hat. Das beherbergt aber auch einen positiven Gedanken: wir sind mit weniger Verantwortung beladen, als wir uns selbst zumuten. Wir dürfen uns getragen fühlen von diesem Geschehen, vom Zeitlichen. Es ist der beobachtbare schöpferische, bewusstseinsschaffende und bewusstseinstragende Prozess.
Der lebenspraktische Nutzwert
Zeit macht Schöpfung sichtbar. Schöpfung – und mit ihr Bewusstsein – erwacht sozusagen zum Leben durch unsere Fähigkeit, diesen Fluss der Entwicklung wahrzunehmen. Der Kosmos wird sichtbar (oder: sich seiner gewahr) durch unsere Fähigkeit, aus dem Fluss herauszutreten und “Zeit” wahrzunehmen. Kommen wir zu einer “vertikalen“ Wahrnehmung der Zeit, erleben wir eine wunderbare Verbindung mit der Ewigkeit. Angst und Sorge kann sich nur aus der horizontalen Zeitsicht heraus speisen. Vollständige Gegenwärtigkeit bedeutet, nicht mehr im Konflikt zu sein. Ich erkenne mein relatives Ausgeliefertsein an die Gegenwart. Daraus erst kann ich wirklich handlungsfähig sein. Der Tod droht auch nicht mehr, denn er ist noch nicht da und wenn er da ist, so bin ich als Betroffener nicht mehr in der Zeit.
Trotz Allem: wir bleiben immer Beobachter. Auch unser Urhebergefühl, was uns suggeriert, frei handelnde Wesen zu sein, kann beobachtet werden. In der einfachen Reflektion oder Meditation bemerke ich schnell, dass ich nicht der Verursacher der in mir aufsteigenden Impulse oder Gedanken bin, sondern eher deren Sklave – auch wenn dieser Vorgang “in mir” stattfindet. Es darf nur nicht übersehen werden, dass eine solche Urheber- Freiheit nicht existieren kann, da es unmotiviertes Handeln oder unmotiviertes Geschehen nicht geben kann. Unbewusstheit über Motive wird mit Freiheit verwechselt.
Darin liegt aber keine Tragik, denn das, was wir als Freiheit erleben, ist legitim und darf so gelebt werden. Es definiert uns und verleiht uns die Fähigkeit, sowohl schöpferisch bewusst zu sein als auch gleichzeitig der Beobachter dessen. Es ist ein “sich Ereignen” der Schöpfung selbst, dessen Zeuge wir sind. Zeit ist also mehr als ein “Medium der Handlungskoordination” -was sie nämlich gar nicht sein kann, weil Zeit in dieser Definition mit Eigenschaften belastet wird, die sie gar nicht haben kann***. Zeit ist in erster Linie Bewusstheit über die eigene Existenz. Postulieren wir eine “höhere Zeit”, dann ist diese die organisierende Struktur des universellen Netzwerks, welches nicht (nur) im Raum ist, sondern im “Meer der Möglichkeiten” (N. Bohr). Sie findet sich wieder in der Astrologie oder im Wissen vieler Naturvölker um Rhythmen, Sequenzen und Qualitäten der Zeit. Auch diese Zeit kann beobachtet werden.
Und jetzt kann man zu einer neuen Perspektive der Zeit kommen: wir nehmen Zeit für gewöhnlich als etwas wahr, was hinter uns gefriert und nach vornhin offen ist. Wir fühlen uns durch die Vergangenheit bestimmt: unsere Kindheit, Ausbildung, Erfahrung etc. haben uns zu dem Menschen gemacht, mit dem wir uns identifizieren. Was, wenn wir uns vorstellen würden, die Zukunft existiere bereits – was sie ja in ihrer Potentialität auch tut? Sie muss nur noch eintreten. Die Gegenwart ist ihre Ursache. Henri Bergson formulierte es überspitzt so: „Zeit ist nicht, sondern wird immerzu“.
Was war zuerst da?
Das Potential bestimmt den Anfang: ein Samenkorn wird von seiner Zukunft bestimmt, die “fertige Form”, die Pflanze, ist in ihm vollständig enthalten. In der Eizelle und der Samenzelle ist der vollständige Mensch “enthalten”. Lassen wir doch mal einen Film rückwärts laufen. Dann wäre die Zukunft die Ursache für meine Gegenwart. Sie “möchte” sich durch mich und meine Gegenwart “verwirklichen”. Allerdings bin ich “frei”, die Zukunft zu wählen, sie zu lenken. Ich entscheide in großem Maße, welche Zeit Wirklichkeit wird, denn als Bewusstseinsträger bin ich nicht nur “Empfänger” sensorischer Reize, sondern ich stehe in ständigem Austausch (“Resonanz”) mit Allem.
Diese Einsicht kann helfen, in die Dinge hinein zu warten. Ich muss nicht mehr Energie aufwenden, als nötig; die Zeit selbst lässt die Ereignisse so kommen, wie es eine größere, für mich nicht immer erkennbare Harmonie erfordert. Außerdem kann ich Zeit als etwas Intimes verstehen; “meine Zeit” unterscheidet sich vom Rest der Welt, ich habe eine ganz eigene Zeit, in welcher sich mein Leben entfaltet und die sich nach Art und Qualität meines Bewusstseins gestaltet. Das ist die göttlich Eigenschaft der Zeit, in der sich “Gott durch mich” zeigt.
Das zu verkörpern setzt eine gewisse Hingabe an das Leben voraus, ein im- Frieden-Sein mit der Wirklichkeit. Um dem Leben Sinn zu verleihen (wobei in dieser Definition das Leben mir Sinn verleiht, denn ich bin eine Emanation des Lebens), muss der angenommenen Sinn aus der Zukunft in die Gegenwart gebracht werden. Im bisherigen Verständnis ist die Gegenwart meist nur ein Mittel: sie soll eine bestimmte Zukunft herstellen, sie dient der Zukunft- ein „gegen-warten“. Damit verliert die Gegenwart an Lebenswert.
So ist die Zeit in uns und wir in der Zeit. Sie trägt uns, gestaltet uns und macht sich selbst sichtbar. Der beobachtende Geist, der Mensch, ist das wahrnehmende Wesen, die Linse, das Ohr und auch der Mund dieses umfassenden Prozesses. Sein Bewusstsein steht mit allem in Verbindung und verwirklicht damit eine spezielle Zukunft: Wir sind Zeit.
*Die Dauerhaftigkeit der Vergangenheit ist dabei einem fortlaufenden Erosionsprozess unterworfen, also einem Symptom der Zeit, zumindest scheinbar, denn tatsächlich wohnt die Vergänglichkeit sowohl der materiellen als auch der ideellen Welt selbst inne. Nur wäre es etwas voreilig, aus dieser Beobachtung auf eine eigenständige Wirklichkeit der Zeit zu schlussfolgern: Zeit ist (ebenso wenig wie der Raum) ein eigenes Medium.
**Wieder einmal scheint klar zu werden, dass Zeit immer an Raum oder Räumlichkeit und an damit verbundene Qualitäten gekoppelt sein muss, wenn wir mit ihr als „Wert“ umgehen. Durch die moderne Kommunikationstechnologie und Mobilität gibt es auf dem uns beherbergenden Planeten kaum noch echte Distanzen. Das Gefühl wirklicher (räumlicher) Ferne ist an die Zeit gebunden. Die Überbrückung großer Entfernungen war von jeher mit großem Zeiteinsatz verbunden. Heute ist dafür im schlimmsten Falle nur ein großer Einsatz an Geldmitteln nötig, was Zeit wieder zur Mangelware und Distanzen zu lästigen Hindernissen macht. Die psychischen Folgen sind fatal. Wir sind kaum mehr wirklich im Jetzt und Hier verortet, Heimat ist ein wässeriger Begriff geworden und noch weniger fühlen wir uns als Bewusstseinsträger dieser Welt, mit der wir untrennbar physisch und seelisch verbunden sind. Nachdem wir alle Rekorde im Überwinden irdischer Distanzen gebrochen haben, strebt unsere Gattung in die Weiten des Weltraums, um auch sie zu unterwerfen. Dabei wird übersehen, dass diese Weiten eine Unüberbrückbarkeit für uns physische Wesen darstellen, die unser Dasein sowie dessen Sinn „natürlich“ (also räumlich) begrenzt. Wir werden zurückgeworfen und gezwungen, Fragen neu zu stellen.
*** Jedes Medium besitzt eine eigene Substanz. Raum & Zeit bilden da Ausnahmen. Das legt den Verdacht nahe, dass es sich hierbei um mentale Konstrukte handelt, welche Bewusstheit und damit Wahrnehmung ermöglichen, selbst aber nur im Rahmen ihrer erlebbaren und zuschreibbaren Eigenschaften existieren.