Warum du bereits vollständig bist
Irgendwie ist da doch immer das Gefühl, es würde etwas fehlen. Etwas, was in der Zukunft auf dich wartet. Im Gegensatz zu allen anderen Bewohnern dieser Welt scheint der Mensch nicht ganz freiwillig hier zu sein. Es ist nicht nur reine Freude und Selbstzweck, Mensch zu sein, es ist immer auch irgendwie eine Last. Der Mensch spürt das große NEIN in sich, was uns erst zum Menschen macht, ihn von den übrigen Tieren unterscheidet und dessen Ausgangspunkt das reflexive Bewusstsein ist. Schon das Kind schreit sein NEIN! Der Welt entgegen.
Sollte “es” nicht aber “anders” sein?
Und immer wieder stellen wir die einfache Wahrheit fest: jedes NEIN löst sich am Ende nur durch das völlige Annehmen dessen, was ist, auf. Natürlich trete ich den Bedingungen in der Welt als kreativer Geist auf und kann die Welt formen; doch der bewusste Schritt des Annehmens ist die Voraussetzung wirklicher Veränderung. Mit einem JA! verbinden wir Herz -als Sinnbild für unser innerstes Erleben, was immer emotional ist, mit unserem Willen. Wille ohne Herz ist zerstörerisch, Herz ohne Wille ist Ohnmacht.
Tun wir diesen bewussten Schritt nicht, sind wir gezwungen, unser NEIN zu verteidigen: Wut ist dann der Ausdruck unseres Willens. Nur, wenn das Herz als verbindendes und liebendes Element integrierend wirkt, kann die Wut aufgelöst werden und in einen gesunden Willen zur Selbstverwirklichung umgewandelt werden.
Das kennen wir nämlich alle irgendwie: Menschen, die sich selbst darüber definieren, gegen was sie alles sind oder was sie alles sind! Das Drama! Meine Kindheit, meine Krankheit, mein liebloser Partner, mein schrecklicher Chef – ich bin gar nicht mehr ich, sondern ich stecke unter vielen Schichten meines Dramas, meiner Geschichte, oder auch meiner tollen Qualifikation, meines Wissens oder Stellung. Diese Schichten nennen wir Ego: Ist ist der künstliche Teil meiner Persönlichkeit, die andauernd AUfmerksamkeit und Bestätigung braucht. Kein Wunder, es ist auch der einzig vergängliche Teil meiner Persönlichkeit.
Aber erst mit einem echten „Ja“ zu Allem stehe ich nicht mehr als Ego zwischen der Welt und meiner wirklichen Wahrnehmung, die die göttliche All- Bewusstheit ist.
Dann geschieht etwas Bemerkenswertes: ich erkenne dann, dass meine ganze Vorstellung von der Welt und meine Interpretation eine Projektion meines Egos ist, verzerrt durch die Erfahrungen und Prägungen meiner Vergangenheit und den Erwartungen, die daraus resultieren. Ab dann kann ich auf einmal alles, was mich an der Welt oder anderen Menschen stört, dort lassen und ich werde frei: frei von der Fessel und den Zwängen meiner Reaktionen.
Aber was ist dieses große JA?
Was ist es, dass es mehr kann als immer nur eine Bestätigung meiner Überzeugungen da draussen in der Welt zu suchen? Dieses Ja, dass das Vertrauen nie verliert? Das weiß, dass alles ein virtuelles Spiel ist?
Sri Chinmoy hat drei Abstufungen unterschieden:
1. Zunächst die Liebe, die anerkennt, dass wir alle „verkleidete Engel“ sind, eingehüllt in Persönlichkeiten, die dieses Spiel spielen. In dieser Liebe erkenne ich, dass ich weder meinen Geist, noch die Funktionen meines Körpers wirklich steuere. Es geschieht von selbst, ich geschehe von selbst. Das wahre ICH ist nicht die Ansammlung von Nahrung (Körper) oder die Ansammlung von Erfahrung (Geist). Das wahre Ich beobachtet diese Vorgänge, es steuert sie aber nicht. Mit dieser Erkenntnis löse ich mich von mir und dem, was geschieht.
2. Die Hingabe, die aus dieser Haltung, aus dieser Liebe folgt, bewirkt, dass man aufhört, allem etwas entgegen setzen zu müssen. Das Entgegensetzen ist zwar Teil meines „Geschehens“, aber ich bin es nicht. Damit kann ich kein Opfer mehr sein. Ich kann kämpfen, muss es aber nicht, weil nicht ICH kämpfe, sondern meinen Kampf beobachte. In der Hingabe kann ich erkennen, wer da kämpft: die sterbliche Identifikation meiner Person, also mein Ego? Was hat es nun schon wieder zu verlieren? Welche Ängste treiben es an? Oder geschehe ICH in meiner reinen Natur? Da liegt die einzige wirkliche Willensfreiheit: hinaustreten zu können, Bewusstheit zu sein.
3. Aufgabe. Ich gebe auf. Die ständige Rückfälligkeit ins identifizierte Ego wird bemerkt, wird bewusst. Jetzt lasse ich jeden Widerstand fallen und alles ist nur noch ein einziges Geschehen. Leiden erkenne ich dann vollständig als Folge meiner Identifizierung.
Was ist “Identifiziert sein” aber denn genau? Es bedeutet, dass ich ganz und gar meine Reaktion bin, gefangen von meinen Prägungen und den Umstände meiner Umwelt. Das Reagieren ist das automatische Abrufen von Informationen aus der Vergangenheit. Ich gehe in der Reaktion völlig auf ohne zu realisieren, dass meine Reaktion selbst Teil des „sich ereignen“ ist. Aber: erst aus dem nicht tun müssen kann wirklich sinnvolles Tun entstehen, und nur dort kann man von echter Freiheit sprechen, weil Handeln dann nicht nur überwiegend REAGIEREN ist.
Und jetzt brauche ich nicht „mehr“ werden oder an einen bestimmten Punkt gelangen. Im Gegenteil: vollständig zu sein bedeutet, sich im Ganzen wiederzufinden und alle selbstgemachten Trennungen aufzuheben. Diese Trennungen sind allesamt NEINs zur Gesamtheit des Lebens, zu allem, was ich nicht möchte. Paradoxerweise liegt dort meine Vollständigkeit: meine Trauer, die ich weggesperrt habe oder kaschiere, meine Angst, aus dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit; um die Unerreichbarkeit meiner illusionären Vorstellungen und Erwartungen ans Leben; meine Schwäche, mein Ausgeliefertsein an diese Welt, die so anders ist als ich.
Und doch hält mir diese Trennung in diesem Anders-Sein den Spiegel vor: sie zwingt mich in die Knie. Ich fühle mich schwach und zerbrechlich.- und erkenne plötzlich, dass dieser Zustand ebenso wertvoll ist wie der der Stärke. Die Schönheit des Ganzen wird sichtbar, die Erhabenheit im Großen wie im Zerbrechlichen. Diese Erhabenheit wohnt dem Leben inne, sie will da sein, gefühlt werden, sie entsteht genaugenommen durch mein Gewahr-sein, sie wird zur Wahrheit, sie wird ge-wahr. In Wirklichkeit ist alles immer vollständig. Bleiben wir hingegen Gefangene unserer selbst, unseres Ego- Ichs, bleiben wir klein und unvollständig.
Andererseits eröffnet sich ein großer Raum jenseits des Gefängnisses meines Ich: wenn ich einerseits nicht mehr gefangen bin in dieser Enge, die mich bestimmt und determiniert und mich andererseits als Ausdruck des großen Ganzen, als Träger des einen, umfassenden Bewusstseins sehe, sehe und erfühle ich die Großartigkeit, die ich in der Welt sehe, auch in mir. Ich brauche dann nichts mehr darzustellen, nicht zu gefallen, nicht zu überzeugen. Ich bin vollständig; nicht in Selbstgefälligkeit (die eigentlich ICH- Gefälligkeit heißen müsste), sondern in Freude an mir und an dem Leben selbst.