Was ist das”Böse”?
Hinweis: für eine gründliche Betrachtung des Themas schau dir bitte den Artikel: „das Böse: Versuch der Ergründung eines Phänomens” an!
Existiert das Böse als eigenständige Qualität? Existiert es außerhalb von uns? Kann es beseitigt werden? Kann man diese Fragen überhaupt beantworten?
Zunächst einmal: Wir finden bei nüchterner Betrachtung keine Eigenschaft „Böse“ im Kosmos. Das Böse wird erst im oder durch den Menschen konkret. Es ist also immer eine Zuschreibung, eine Bewertung, es ist die Summe dessen, was wir NICHT wollen. Warum kann man das sagen? Außerhalb des Menschen gibt es keine Moral- und damit kein Böses. Moral ist die Bewertung von Ereignissen und Handlungen innerhalb eines Wertekodexes. Und damit wird schnell klar, dass das, was wir als „das Böse“ bezeichnen, erst durch den Menschen Wirklichkeit erhält. Er selbst erzeugt es, er verursacht es und erkennt es dann als Solches. Dann versucht er, es auszulagern oder seine Ursachen weit außerhalb seiner Selbst zu verorten. Damit erschafft er das, was wir unter dem Begriff Schuld verstehen.
Das Böse aber ist der Schatten oder die Rückseite des erkennenden Bewusstseins: ich sehe, Urteile und spalte damit die große Einheit allen Geschehens und aller Wirklichkeit auf in Gut + Böse.
Wieso aber bedarf es einer solchen „Rückseite“ oder „Schattens“?
Wir könnten Leben als den Versuch sehen, sich gegen die Vergänglichkeit materiellen Zustände zu stemmen: der Lauf der Dinge ist gleichzeitig deren Sterben. Ausnahmslos alles im Kosmos unterliegt diesem Wandel. In uns und außerhalb von uns zerfällt alles, ändert dadurch seine Form und ist im Begriff, etwas Neues zu werden. Ewigkeit ist in Wirklichkeit also keinesfalls die Abwesenheit von Veränderung, sondern der Wandel an sich.
So können wir unsere ewige Natur erfahren- indem wir das Gegenteil dieser unserer wahren Natur ermöglichen. Das führt zu einer der spannensten Fragen überhaupt: Was ist Leben? Unsere Definition von Leben ist doch arg oberflächlich. Sie endet meist beim Organischen. Aber kann man von einem Atom sagen, es sei “tot” in Anbetracht der Dynamik und der Energie,die es enthält? Scheint es nicht vielmehr so, dass sämtliche Kräfte, Energien oder Gesetzmäßigkeiten Ausdruck von Lebendigkeit sind? Alles steht in Austausch und in Verbindung zueinander- in den unterschiedlichsten Möglichkeiten. All diese Kräfte, Energien, Systeme und Gesetzmäßigkeiten stehen in Beziehung zueinander.
Leben an sich ist Bezogenheit, Leben ist seinem Wesen nach damit Liebe: sein Ausdruck, sein Impuls, seine Richtung ist Be- jaend, zugewandt, wachsend und raumschaffend. Deshalb gibt es den Kosmos, diesen Planeten und uns erst.
Liebe könnte in diesem Ur- Verständnis als “Motiv Gottes” gesehen werden.
Nur: wenn es eine Richtung gibt, muss es auch eine Gegenrichtung geben. Wennn es Entwicklung gibt, muss es Stillstand geben. Wenn es ein Werden gibt, muss es Vergänglichkeit geben.
Leben und Liebe sind also offenbar Begriffe, die wesensverwandte Qualitäten beschreiben.
Wenn wir ihr Gegenteil erfassen wollen, kommen wir dem Begriff des Bösen und seiner gewaltigen Bedeutung näher.
Nun wird es psychologisch: Wir erschaffen selbst die dunkle Bedrohung durch unerfüllte Liebe, die sich in Angst gewandelt hat. Wir fürchten den Mangel an Liebe. Diese Angst kann uns verhärten, lässt uns ablehnen und kämpfen. Das erzeugt auf Dauer eine Welt, in welcher das Böse als Summe abgewehrter Gefühle existiert. Eine Welt, die ihrerseits wiederum das Böse hervorbringt, scheinbar aus rationellen, „objektivierbaren“ Gründen.
In Ermangelung von Vertrauen und in Unkenntnis über die eigene wahre Natur wird der Kampf fortgesetzt. Es entsteht eine Welt, in der das Vertrauen in die durchweg positive und lebenszugewandte Natur fehlt, entsteht das Gefühl ständigen Bedroht-seins und der Lieblosigkeit.
Da Liebe frei von Bedingungen ist (Bedingungen sind Verneinungen dessen, was tatsächlich da ist), muss ihr Gegenteil, der Vertrauensmangel und seine Quelle – die Angst- voller Bedingungen sein. Das Ergebnis ist eine Welt, die nicht frei fließen kann, sondern nach Bedingungen funktioniert- oder eben auch nicht. Das hängt eben davon ab, wie gut die Bedingungen erfüllt werden. Die Notwendigkeit eines „Erfüllens“ setzt seinerseits den Mangel voraus: es ist noch nicht oder aus sich selbst heraus voll bzw. erfüllt. Dabei ist Erwartung eine abstrakte Vorstellung, deren Inhalt eine unerfüllte Erfüllung voraussetzt. Das wiederum erzeugt Angst vor Versagen und ein sich wechselseitig verstärkender Regelkreis entsteht. Im Kampf gegen die Angst wird eine innere starke Abwehr im Innen und Außen aufgebaut und auf die Umwelt projiziert: Szenarien entstehen und Täter werden gemacht.
Gehen wir noch tiefer in die Psychodynamik! Wollen erzeugt genauso wie Müssen genau das, was man vermeiden will: jeder Kampf stärkt und erschafft genau das aufs Neue. Dieser Mechanismus ist überall zu beobachten. Beides ist Gewalt an der Wirklichkeit, die verändert oder verbessert werden soll. Beides geht von der Vorstellung aus, äußere Dinge gewaltsam ändern zu können, deren Änderung nur eine Folge veränderter innerer Haltungen sein können.
Erst wenn diese Entwicklung erkannt wird und durchfühlt wird und in der Folge in Liebe verwandelt wird, kann das Böse verschwinden. Werden Gefühle der Wut, der Enttäuschung, der Trauer, des Verrats oder der Angst unterdrückt, tauchen sie als dämonische Fratze woanders wieder auf: das „Böse“ wurde erschaffen, man hat ihm Gesicht, Gestalt und sogar eine eigene Wirklichkeit gegeben.
Doch was ist das Böse tatsächlich? Es ist der Raum, der Hintergrund, auf dem Liebe konkret und wirklich werden kann. Was wäre Liebe, was wäre Mitgefühl ohne eine Möglichkeit, ein Feld, sich ins Dasein zu bringen? Das Böse wird zum Kontrastmittel, es definiert uns, weil es die Grundlage unserer Freiheit ist. Erst durch das Böse sehen wir, was wir tun, was wir lieben oder wo wir individuell und kollektiv verortet sind. Die Möglichkeit des Bösen ist die Grundlage echter Wahlmöglichkeit, also echter Freiheit.
In dem Maße, in welchem das Böse anwesend ist, fehlt Liebe und Verbundenheit unter den Menschen, in diesem Maße sind sie der Schöpfung fern geworden, sehen sich selbst nicht mehr in ihrer göttlichen Natur und Größe. Gleichzeitig zwingt uns das Übermaß des Bösen wieder zurück ins Gleichgewicht, zur Rückanbindung an unseren Ursprung. Das Böse selbst ist dann die Kur, die das Kranke heilt. Es zeigt uns die Richtung. Es lässt uns Haltung beziehen. Es ist der magnetische Pol unseres moralischen Kompasses. Es macht das Wunderbare erst möglich, es ist der Hintergrund, auf dem Mitgefühl und Liebe erst wirklich werden können.