Wenn eine nahestehende Person Affinitäten zu einer Sekte zeigt
Wendet sich ein Mensch einer Sekte zu, so muss klar sein, dass er dort etwas findet –zumindest scheinbar- was ihm fehlte und er diesen Bedarf bisher nicht anders bedienen konnte. Sekten und Kulte sind Nebenwirkungen (und Risiken…) und Begleiterscheinungen einer Gesellschaft, die mangelhaft ist: es fehlt in dieser Gesellschaft an Perspektiven, an Anerkennung und menschlicher Nähe. Sekten sind also ein Symptom.
Nicht die Sekte ist es daher, die die Leute „anlockt“; zumindest nicht primär. Zuerst ist da das unbefriedigte Bedürfnis im Menschen, welches er selbst möglicherweise gar nicht genau kennt oder benennen könnte. Doch die Sekte hat etwas zu bieten. Ihre Attraktivität beruht darauf, dass sie scheinbar das Stillen kann, was sonst nicht gestillt wurde. Es geht also nur scheinbar um die Zukunft; der Aspirant erfährt durch die Sekte jetzt im Moment eine Aufwertung.
Das im Sinn zu behalten hilft dabei, nicht in eine vorwurfsvolle Haltung zu rutschen, die die Beziehung zur betreffenden Person noch weiter belasten würde.
In manchen Fällen überwiegen sogar die positiven Effekte, welche die Verbindung zu einer Sekte mit sich bringen können. Ich sage das mit aller Vorsicht; aber tatsächlich gibt es solche Fälle. Ältere Menschen, die sich nach Geborgenheit und Fürsorge sehnen sind in manchen Gemeinschaften gut aufgehoben, vorausgesetzt, sie binden oder verpflichten sich nicht wirtschaftlich an diese.
Zu bedenken ist auch immer, dass das Motiv, sich einer Sekte zuzuwenden, immer Folge einer inneren Suche ist. Damit ist diese Zuwendung auch anfangs ein authentischer Schritt: der Betreffende handelt nach seiner inneren Wahrheit. Vielleicht war die Suche gar keine explizite Suche nach religiösem oder spirituellem Sinn; sie erscheint in einer Lebensphase des inneren Umbruchs in Folge einer Sinnkrise, einer inneren Neugestaltung oder Neuorientierung oder nach dem Auftauchen lange unterdrückter Impulse. Das erfordert einen gewissen Mut: immerhin haben diese Sekten ja keinen guten Ruf und Gegenwind aus dem Familien- oder Freundeskreis ist zu erwarten.
Das gilt es zu würdigen und anzuerkennen. Gleichzeitig muss ich mir selbst als besorgter Freund oder Angehöriger darüber im Klaren sein, dass meine Reaktion –meist Angst und Sorge um die Freiheit der betroffenen Person – auch nicht auf neutralem Boden steht. Ich bin meist selbst voller Vorurteile oder Vorbehalte gegenüber der Sekte. Innerlich einen Schritt zurück zu treten, wissend, dass die Zeit ein geeigneter Verbündeter ist, um die Wahrheit sichtbar zu machen und sich daran zu erinnern, dass jeder seine eigenen Erfahrungen machen muss und will , ist sicher eine gute Anfangshaltung. Mit der Situation unaufgeregt umzugehen, ist die Haltung, aus der heraus man am meisten bewirken kann. Als Außenstehender ist man nicht automatisch in der Situation, es „besser“ zu wissen.
Nun folgen einige konkrete Verhaltensempfehlungen gegenüber dem „Adepten“ (der Einfachheit halber verwende ich die männliche Form bezogen auf die Rolle als einer Person, die sich einer Sekte zuwendet). Sehr früh wird ein Interessent darauf vorbereitet, im Freundes- und Bekanntenkreis auf Ablehnung und Kritik zu stoßen. Das sei ein Zeichen dafür, dass er auf dem richtigen Weg ist. Und genau hier kann man die Erwartung schon ins Leere laufen lassen:
- Sei Interessiert! Zeigst du dich überrascht- interessiert, umgehst du das vorbereitete Abwehrprogramm und kommst auf die Beziehungsebene, also von Mensch- zu Mensch. Das erzeugt Ehrlichkeit- zunächst mit dir, beim Adepten auch bei sich selbst.
- Urteile nicht. Spürt der Adept, dass weder er noch sein Verhalten be- oder verurteilt wird, kann er sich entspannen und braucht keine Energie für Rechtfertigungen und eine Abwehr aufzubringen; beides ermüdet und belastet das Verhältnis zwischen den beiden Parteien. Je weniger du urteilst, desto mehr entziehst du dich vorgefertigten Kategorien, die dem Adepten von der Sekte bereitgestellt werden und dazu dienen, letztlich den Kontakt mit Nahestehenden wie dir abzubrechen.
- Trenne zwischen deiner Meinung und der Beziehung. Du magst nicht einverstanden sein mit dem, was der Betreffende tut, aber deshalb lehnst du ihn als Mensch nicht ab. Deshalb vermischen sich keine sachlichen Argumente mit persönlichen Vorwürfen.
- Sei Interessiert und sei dabei aufrichtig! Das verhindert, dass sich der Betreffende emotional verschanzt und damit noch schneller zur Sekte hin gedrängt werden würde. Zudem kann deutlich werden, was genau er an der Sekte attraktiv findet. In diesem Licht wird sein tatsächliches Bedürfnis evtl. sichtbar. Außerdem lernst du dabei seine subjektive Sicht auf die Lehren der Sekte kennen.
- Lass den Adepten spüren, dass er dir als Mensch wichtig ist. Damit kann ein Zugang aufrecht erhalten werden, der nicht über die Verstandesebene geht.
- Dränge ihn nicht in die Defensive. Scheinbar sachliche Argumente werden schnell zum Schlagabtausch, den keiner gewinnen kann. Würden Sekten auf diese Art inhaltlich widerlegt werden können, gäbe es sie nicht.
- Mach die Sekte nicht zum Hauptthema. Das würde seine Entscheidung pathologisieren. Er könnte das Gefühl bekommen, die Entscheidungsfähigkeit abgesprochen zu bekommen oder zumindest nicht ganz zurechnungsfähig zu sein.
Willst du erreichen, dass der Kontakt zu dir erhalten bleibt, muss der Adept spüren, dass du sowohl an ihm interessiert bist als auch, dass du nicht glaubst besser zu wissen, was gut für ihn ist. Kritik an seiner Annäherung an die Sekte muss er als Kritik an seiner Person auffassen und davon ausgehen, dass du seine Motive weder ganz kennst noch diese verstehst. Eine wohldosierte Portion Humor hilft, den Ernst, den die Sektenlehre dominiert, zu relativieren und vielleicht eine gemeinsame höhere Perspektive einzunehmen. Gemeint ist dabei natürlich Humor mit Herz und keine Ironie, Spott oder Zynismus. Dein Gegenüber hat soeben für sich eine neue Sicht auf die Welt erschlossen. Er ist vermutlich fasziniert von Zusammenhängen, die seinen Horizont erweitern und Erklärungen liefern, die fundamental sind. Dir stehen aus seiner Sicht diese grundstürzenden Informationen nicht oder noch nicht zur Verfügung.
Zu Letzt muss ich mir als besorgter Freund oder Angehöriger auch meine eigene Ohnmacht eingestehen. Ich kann die Situation wahrscheinlich nicht ad hoc ändern. Ich muss es hinnehmen. Auch da hilft eine gewisse Unaufgeregtheit.
Werden diese Besonderheiten und Merkmale berücksichtigt, stehen die Chancen gut einen offenen Dialog und eine tragfähige Vertrauensbasis aufrecht zu erhalten.