Der Unfall

Der Unfall

Merkens-Wert

Denkens-Wert

Alex Friedemann schlug die Autotüre hinter sich zu, das Geräusch des Regens erstarb. Der Tag war stressig. Seit er Leiter der Abteilung für Gentechnik am Institut geworden war, blieb kaum noch Zeit für die Familie.
Es verging kaum eine Stunde, in der nicht ein Berufskollege aus irgendeinem Teil der Welt anrief, Mailte oder ein Fax schickte. Eric, sein Freund und Soziologieprofessor an der Uni bemängelte, dass es scheinbar keinen Berufsethos ohne persönlichen Ehrgeiz mehr gäbe; selbst auf einem „moralisch so anspruchsvollen Gebiet“ wie der Gentechnik, wie er sich ausdrückte, scheine der Wettkampf die eigentliche Triebfeder des Handelns zu sein.
Quatsch, dachte Alex. Die Menschen haben die Schwelle überschritten, die sie so lange an der wichtigen Entwicklung gehindert hat, nämlich die nationalen Grenzen. Endlich können Wissenschaftler aller Länder gemeinsam forschen, nicht zuletzt dank moderner Kommunikationstechnologie sinnierte Alex, während er im zähen stopp-and –go Verkehr die Fußgänger beobachtete, meist Pendler, die meisten auf dem Weg nach Hause. Jeden Tag hatten sie alle den gleichen Ausdruck im Gesicht: grau und in sich gekehrt, fast verbissen, wie in stiller Trauer. Wie der Regen.
Die grelle Leuchtreklame des großen Kaufhauses wollte genauso wenig dazu passen wie die unglaublich gute Laune des Radiomoderators, die weder durch den wenig hoffnungsvollen Wetterbericht, noch durch den fast vierminütigen Stau Bericht getrübt wurde, den er gerade verlesen hatte. Jaja, jeden Tag diese Staus, diese Verschwendung. Wir haben Systeme konstruiert, die nicht bedarfsgerecht funktionieren. Auch dafür wird die moderne Wissenschaft eine Lösung finden, ging es Alex durch den Kopf.

Inzwischen floss der Verkehr wieder, er hatte die Innenstadt Freiburgs hinter sich gelassen. Alex freute sich auf die Landstrasse, in die er jetzt einbog. Kurvenreich führte sie in die kleineren Ortschaften des vorderen Schwarzwaldes, wo auch Alex seit fünf Jahren mit seiner Frau Silvie und seiner Tochter Lea lebte. 29km zum abschalten lagen vor ihm; im Geiste war er auch jetzt bei seinem Projekt, vielleicht in gemäßigterem Tempo. Alex stellte die Sitzheizung seines Jaguar ab. Ja, er konnte zufrieden sein; nach diesem Jahr würde er sich mehr Zeit für Lea nehmen können- vielleicht würde er sogar nur noch vormittags arbeiten. Oder nur noch von Zuhause aus. Die Villa hatte Alex eigens mit einem großen Büro und der Möglichkeit bauen lassen, ein Labor einrichten zu können.
Ein Urlaub mit der Familie wäre auch nicht schlecht; das letzte Mal, dass sie gemeinsam in Urlaub waren, ist sechs Jahre her; damals war Lea gerade mal zwei.
Wofür habe ich die Yacht für ein Schweinegeld gekauft? Seit zwei Jahren liegt sie in San Remo und wurde bis auf die Sylvesterfeier letztes Jahr mit Erics Familie und ein paar Wochenendausfahrten nicht genutzt!

Der Regen wurde heftiger; selbst auf der stärksten Stufe hatten die Scheibenwischer die größte Mühe, für freie Sicht zu sorgen. Alex konnte sich nicht erinnern, einen solchen Regen erlebt zu haben. Kein anderes Auto kam ihm entgegen. Sollte es etwa einen Erdrutsch gegeben haben? Seltsam, dachte Alex, hatte der Radiofritze nicht was von „gelegentlichen Schauern“ gesagt? So eine Sintflut hätte doch prognostiziert werden müssen!
Er versuchte, noch einmal an den Urlaub zu denken; „heute werde ich mit Silvie darüber reden“! Nicht ohne eine gewisse Bitterkeit wurde Alex bewusst, dass sich die Gespräche mit seiner Frau seit langem nur noch um die Abläufe des Alltags drehten.
Alex wechselte den Sender; die Dokumentation über den jüngsten Terroranschlag im nahen Osten passte nicht zu der Stimmung, nach der ihm gerade war. Warum wird so etwas eigentlich ständig in den Medien gebracht? Das bringt uns doch nicht weiter! Ständig passieren tausende von Dingen und in den drei Minuten Nachrichten hört man immer dasselbe: schlimm und weit weg. Dabei gibt es soviel gutes, soviel beeindruckendes! Erst letzt Woche wurde in England ein Weg entdeckt, das Wachstum von Krebszellen umzukehren – Sie entwickelten sich nicht, sie degenerierten. Sicher, es war nur ein einfacher Stamm gewesen, aber immerhin.

Zu spät sah Alex die scharfe Linkskurve. Erschrocken riss er das Lenkrad herum, das Heck des Wagens brach aus, Alex versuchte, ihn abzufangen, vergeblich. Ein hässliches Krachen folgte, als der Jaguar die Leitplanke durchbrach. Alex fühlte sich wie in einem Karussell, alles schien sich mit irrwitzigem Tempo zu drehen, es war endlos. Ein endloser Horrortrip, auf Sekundenlänge zusammengestaucht, ein endloser Horrortrip…

“Bin ich verletzt? War ich ohnmächtig?” Ging es Alex durch den Kopf. Jedes Zeitgefühl hatte ihn verlassen, als er die Augen öffnete und der seltsamen Stille lauschte, die ihn umgab. Zum Glück steht der Wagen auf den Rädern und liegt nicht auf dem Dach, dachte Alex. Offenbar bin ich unverletzt.
Langsam öffnete er die Tür, als erwarte er, doch noch von einem überraschenden Schmerz gepackt zu werden.
Der Regen hatte aufgehört. Ich muss doch ohnmächtig geworden sein, überlegte er. Verrückterweise war der Boden hier völlig trocken.
Der Himmel war von einem gleichförmigen, beklemmenden Grau überzogen. “Wenigstens hat es aufgehört zu schütten”, dachte Alex und begann die Böschung zur Strasse hinaufzuklettern. Der Wagen war ca. 40 Meter hinter der Leitplanke zum stehen gekommen, nachdem er sich offenbar mehrmals Überschlagen hatte. “Wird ja bald jemand vorbeikommen,“ dachte er sich.
An der Strasse angekommen, schrak Alex zusammen: die Fahrbahn war in beide Richtungen mit Rissen Übersät, aus manchen ragte fahl – grünes Gras. „Was zum Teufel…?“ Alex sah sich um. Da, wo eigentlich sonst dichter Nadelwald stand, war nur karger Fels und ein Paar Baumstümpfe – verkohlte Stümpfe. Kein Vogel war zu hören, geschweige denn irgendein Anzeichen von Menschen. Alex schlug den Kragen seines Mantels hoch; es war empfindlich kalt.
Das Handy! Schoß es ihm durch den Kopf und er griff in seine Manteltasche. „NETZSUCHE“ stand auf dem Display. „Fantastisch“ wunderte sich Alex über das Funkloch, das er hier noch nie erlebt hatte.
Da fiel sein Blick auf einen dürren Strauch, in dem sich ein Stück Zeitungspapier verfangen hatte. Alex nahm den Fetzen. Es war die Titelseite der „süddeutschen Zeitung“, zumindest ein verblichenes Stück davon. Der lesbare Teil der Schlagzeile lautete: „…drohen UN mit Einsatz von Atomwaff…“ Alex überlief ein Schauer. Dann las er das Datum. Es war gerade noch lesbar: 20.4.2049. Er las noch einmal. Langsam. Das hier war ein verdammter Scherz. Oder…? Die Bäume, die Strasse… das Radio! Er würde das Radio anmachen und aus diesem Albtraum erwachen! Genau!
Er hatte kaum fünf Schritte in Richtung seines Autos gemacht, als er laut aufschrie.
Anstelle seines neuen, grünen Jaguars X-Type stand dort nur noch eine völlig verrostete Karosse. Kein Lack, keine Scheiben, selbst das Leder der Sitze hatte sich aufgelöst!
„Natürlich!“ schrie Alex mit wahnsinnigem lachen, „so sieht ein Auto eben nach 31 Jahren in der Wildnis aus!“
Das alles schien wirklich zu sein, kein Traum. Alex sank in die Knie. Noch einmal sah er zu seinem Wagen und bemerkte jetzt das Wort, das deutlich lesbar auf der Fahrertür stand:

KREBSZELLEN

las Alex in grünen Buchstaben, gebildet von dem Lack, der noch zu sehen war.
Weg! Weiter! Die Strasse entlang, da komme ich unweigerlich irgendwohin, wo es eine Erklärung gibt..!

Alex lief in die Richtung, in der sein Haus lag – oder liegen müsste. Unterwegs sah er nirgendwo ein Zeichen von Leben, nicht mal ein Insekt.
Die Angst, diffuse Angst lies ihn schnell laufen, jedoch verlies ihn bald die Kondition – für sportliche Betätigung hatte er bisher keine Zeit gehabt. Alex setzte sich an den Rand der kaputten Strasse. In einer Senke hatte sich eine Pfütze gebildet und er bemerkte seinen Durst. Er Überlegte , ob es schaden könne, von dem Wasser zu trinken. „Und wenn schon!“ sagte er laut, dachte an den Fetzen der „Süddeutschen“.
Alex trat an die Pfütze und erschrak so heftig, dass er fast vornüber gefallen wäre: Im Wasser waren Menschen zu sehen, als spiegelten sie sich darin, es war fast wie durch ein Fenster, wie auf einem Bildschirm.
Alex spürte sein Herz schlagen. Inmitten dieser trostlosen Ödnis konnte er in der Wasserlache ein Dorf sehen, eingebettet in eine Sommerwiese auf der Kinder spielten. Er spürte förmlich die Wärme der Sonne. Das Dorf hatte eine sonderbare Architektur. Die Häuser waren rundlich oder aber fein verästelt und ihre Farben leuchteten wie ein Blumenmeer. Alles schien wie von der Natur selbst gebaut.
Alex fixierte die Szene noch intensiver mit wachsender Faszination: Hunde, Katzen und andere, sonderbare Tiere, die er nicht einmal aus Zoo kannte, tollten frei herum. Augenscheinlich gab es keinerlei technische Geräte. Da waren auch ältere Menschen, auch sie wirkten unglaublich zufrieden und agil.
„Ein Traum, eine Vision!“ dachte Alex und kniff die Augen zusammen. Als er sie nach einigen Sekunden wieder öffnete, war die Szene in der Pfütze wieder Verschwunden. Stattdessen starrte Alex auf die Wörter, die wie mit zähem Teer geschrieben im Wasser schimmerten:

ENTWICKELN SICH NICHT

Alex sprang auf, lief weiter, stolperte und schürfte sich die Handflächen auf. Es brannte wie Feuer. Das ist kein Traum!!

Nach zwei Stunden Fußmarsch erreichte Alex St. Peter, den Ort, wo er wohnte – oder gewohnt hatte? Er wusste erst, dass er die Ortschaft erreicht hatte, als er vor einem Steinhaufen stand vor dem ein Metallschild lag auf dem stand: „Zum schwarzen Raben“. Jeden Freitag kam er zum Skat hierher.

Im ganzen Dorf standen nur noch Ruinen. Alex setzte seinen Weg fort und einige hundert Meter weiter stockte Alex erneut der Atem: Unter einem rostigen Autowrack lugte etwas längliches, helles hervor. Ein menschlicher Knochen, und zwar ein Arm, wie Alex feststellte. Die dazugehörende Hand hielt immer noch etwas schwarzes umklammert: eine Pistole.
Alex war von dem Anblick so entsetzt, dass er die Skelette, die hier überall herumlagen erst bemerkte, als er sich weiter umsah. An dieser Stelle befand sich normalerweise eine Tankstelle, gleich daneben ein Supermarkt. Von beidem waren nur noch verkohlte Ruinen übrig. Vor dem ehemaligen Supermarkt lagen die Skelette teilweise übereinander, bei manchen hingen noch Stofffetzen über den Knochen, einige hatten zertrümmerte Schädel. Es sah aus wie nach einem regelrechten Massaker.
„Was war hier los?“ hämmerte es in Alex` Kopf. „Welche Anarchie…?“ Plötzliche Schwindel lies ihn taumeln. Übelkeit überkam ihn. Er wollte zu seinem Haus, oder zu dem, was davon übrig war… oder sein wird… verdammt! „Silvie, Lea!“

Er stolperte über Schutthügel und metertiefe Risse, über verbogenes Blech und verbranntes Holz.

Atemlos blieb er vor der Ruine stehen, die einmal seine Villa gewesen war. Leer und schwarz gähnten ihn die Fenster an. Alex wollte näher treten und bemerkte zu spät das Loch im Boden.
Silvie hatte es gefallen, einen echten Brunnen im Garten zu haben. 16 Meter tief hatte man graben müssen.

Während des Fallens erwartete er den Aufprall. Aber der wollte nicht kommen. Das Rauschen, der starke Luftzug, es wollte nicht enden.
Alex riss die Augen auf – und schloss sie gleich wieder.
Der Wind, immer wärmer, er kam von vorne, Alex saß. Ja, tatsächlich, ich sitze!
Er fand sich auf dem Oberdeck auf einem der Ledersessel hinter dem Steuer seiner Yacht wieder, die mit voller Fahrt durch das tiefblaue Wasser jagte. Alex fühlte Panik. Ruckartig fuhr er herum. Da saß Eric, mit einer Flasche Bier in der einen, einem Magazin in der anderen Hand und schien offensichtlich von Alex` Gesichtsausdruck verwirrt zu sein: „Was für einen Geist hast du denn gesehen?“ hörte Alex Eric fragen. Und gleich vernahm er noch eine andere, vertraute Stimme: „Papa, gehen wir heute noch in die Delphinshow?“ Lea kam aus der Kajüte.
„Wir sind heute Abend bei Fleischmanns in Cannes eingeladen!“ Das war Silvies Stimme. „Diesmal kommst du nicht drum herum, Alex Friedmann. Wenn du in den Landtag willst, musst du gewisse Kontakte pflegen!“

Ein Knall peitschte Übers Wasser und Alex zuckte zusammen. Dort, ca. 500 Meter querab lachten und johlten ein paar scheinbar angetrunkene Gestalten auf einer weißen Yacht, von der gerade ein Rauchwölkchen verwehte.
„ Mövenschießen“ sagte Eric verächtlich. „Idioten!“
Jetzt fiel Alex` Blick wieder auf das Magazin in Erics Hand und wie gebannt blieb er an den fettgedruckten, seltsam leuchtenden Buchstaben hängen, die die Kopfzeile bildeten:

SIE DEGENERIEREN

Erneut erfasste ihn ein starkes Schwindelgefühl, diesmal konnte er nicht dagegen ankämpfen. Er rutschte von seinem Sitz und das blau des Himmels wurde schwarz.

„Es geht schon“ stammelte Alex als er merkte, das man sich um ihn bemühte und versuchte zu begreifen, warum der blaue Himmel rhythmisch blinkte. Außerdem tropfte ihm ständig Wasser ins Gesicht. „Verdammter Regen“ sagte eine unbekannte Stimme. Alex zwang sich, die Augen zu öffnen.
Er lag auf einer Trage und wurde gerade von zwei Sanitätern in einen Krankenwagen gehoben.
„Ein Unfall“ sagte einer der beiden, als er bemerkte, dass Alex das Bewusstsein wiedererlangt hatte. „Es war ein Unfall“ und fügte nachdenklich hinzu: „Ich möchte nur wissen, wie Sie sich die Schürfwunden an den Händen geholt haben…“

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